Es wird Zeit

„Es ist Zeit“, sagte der Weihnachtsmann und steckte seine Taschenuhr zurück in den Mantel. Er und seine Frau hatten es sich auf den zwei riesigen roten Plüschsesseln, die auf einem Podest im Foyer des Einkaufszentrums standen, gemütlich gemacht. Von der Decke hing ein meterhoher, umgedrehter Weihnachtsbaum und funkelte in allen Farben; aus den Lautsprechern dudelte seit Wochen die gleiche Christmas-Playlist. Selig die, die es schafften, das auszublenden. Santa jedenfalls ging hochkonzentriert die jährliche Aufgabe an, die am heutigen Adventssamstag vor ihm lag. Er zwinkerte Mrs Santa noch einmal aufmunternd zu, reckte sich zu ihrem Sessel hinüber und drückte ihre Hand. Es war das erste Mal, dass sie diesen Job vor den Feiertagen gemeinsam erledigten. Die Zeiten hatten sich geändert, und das hier, das war eines der guten Dinge, die die neuen Zeiten hervorgebracht hatten.

Alle waren sie wieder gekommen: Die Warteschlange mit zig kleinen und großen Menschen wand sich um die gesamte Ladenstraße herum. Einige tuschelten aufgeregt, andere standen ehrfürchtig und ruhig da. Die Weihnachtsfrau sah sich um. Gut, dachte sie, dass ich diesen dicken Mantel trage, sonst sähen sie bestimmt, wie doll mein Herz schlägt. Es war aufregender, mittendrin zu sein im Weihnachtstrubel, als nur abends bei einer achtsamen Tasse Tee den Tageserlebnissen des Ehegatten zu lauschen.

            Als die Musik verstummte und aus den Lautsprechern endlich das Glöckchen erklang, schob der Mann vom Sicherheitsdienst das Absperrseil beiseite. Als erste in der langen Reihe stand ein Geschwisterpaar im Grundschulalter. Sie hielten einander fest an den Händen und zögerten.

            „Na los!“, drängelte der Mann. „Wir haben nicht ewig Zeit.“

            Die Kinder schauten vom Weihnachtsmann zu seiner Frau und zurück. Die jüngere Schwester traute sich zuerst, löste ihre Hand aus der ihres Bruders und stieg die Stufen bis zum Sessel der Weihnachtsfrau empor. Na, die traute sich was! Der Bruder schüttelte den Kopf und trottete hinterher, blieb vor Mr Santa stehen, ohne dabei seine Schwester aus den Augen zu lassen.

„Das geht klar, mein Junge“, sagte Santa sanft, „sie ist bei ihr in guten Händen. Uns gibt es die Gelegenheit, ein paar Worte ohne sie zu wechseln, hab ich recht?“ Der Junge blickte sich um und betrachtete die Vielen, die noch ungeduldig in der Schlange standen.

            „Keine Sorge“, beruhigte der Weihnachtsmann, „es ist Zeit für alle da. Sag, was wünschst du dir zu Weihnachten?“

            Das war das richtige Stichwort, um die Kinderaugen funkeln und alle Unsicherheit verfliegen zu lassen.

            „Ich hab alles aufgeklebt für dich. Hier, guck!“

            Die Kinderhand zog eine unordentlich zusammengefaltete Seite eines Schulheftes aus der Hosentasche und streckte sie Santa entgegen. Der nahm das Blatt, strich es glatt und besah sich die Bilder, die der Junge aus einem Spielzeugkatalog herausgerissen hatte.

            „Das alles?“, schmunzelte er.

            Der Junge nickte ernst.

            „Gut“, sagte Santa. „Du wirst das bekommen, was du am meisten brauchst.“

            „Und was kriegt sie?“

            „Das, mein Junge, wird Mrs Santa regeln. Sie wird für deine Schwester das auswählen, was sie am besten gebrauchen kann. Nun lauft – ich glaube, da vorne wartet jemand auf euch.“

            Der Junge war verwirrt: Dinge, die man ‚gut gebrauchen‘ konnte? Na toll! Das klang nach Schlafanzug, einem kratzigem Strickpulli (mit Rollkragen) oder nach neuen Gummistiefeln. Langweilig!   „Komm!“ Er zog seine kleine Schwester mit sich den abgesteckten Weg entlang Richtung Ausgang, wo sie vom Vater in Empfang genommen wurden.

            „Und, wie war‘s?“, fragte der.

            Die Antwort ging im neunten heutigen Durchlauf von ‚Last Christmas‘ unter.

            Mittlerweile hatte sich eine Mutter mit vier Kindern zum Sessel des Weihnachtsmanns vorgeschoben, das jüngste hing strampelnd im Tragetuch vor ihrem Bauch und sog am Schnuller. Sie wippte leicht auf und ab und hin und her, um das Baby zu beruhigen. Anscheinend hatte es andere Pläne. Die Zwillinge hielten sich an der Umhängetasche der Mutter fest und blieben so in sicherer Entfernung vor Santa stehen. Die Älteste hingegen baute sich vor ihm auf, zog die Nase kraus und zupfte schließlich an seinem Mantelsaum:

            „Bist du echt?“

            „Und ihr, Kinder?“, fragte er zurück. „Habt ihr echte Wünsche?“

            Die Drei zuckten mit den Schultern und schauten zur Mutter. Die hielt mit einer Hand das Tragetuch umklammert und schob mit der anderen die Zwillinge weiter Richtung Sessel.

            „Macht schon!“, raunte sie ihnen zu. „Ihr wisst doch: der Kleine! Wir müssen nach Hause.“

            „Jaja, immer das Baby …“, seufzte die Älteste leise.

            Die Zwillinge nickten sich kaum merklich zu, traten an den Plüschsessel heran und flüsterten dem Weihnachtsmann etwas ins Ohr: ein Zwilling rechts, einer links. Was sie sagten, konnte die Weihnachtsfrau nebenan nicht hören, sah jedoch aus den Augenwinkeln, wie das älteste der vier Kinder die Hände in die Hüften stemmte.

            „Ey, ich bin dran, ich war zuerst da!“, monierte es und wies die Geschwister weg.

            Die Weihnachtsfrau grinste und versuchte sich zu merken, für diese Mutter unbedingt ein Geschenk vorzusehen. Dann widmete sie sich ihrem nächsten Besucher.

Es war für Mrs und Mr Santa ein langer Tag im Einkaufszentrum gewesen, und auf dem Heimweg hatten sie zu allem Übel im Stau gestanden. Alle wollten zu irgendeiner Weihnachtsfeier oder kamen von irgendeinem Weihnachtsmarkt.

            „Endlich Zuhause“, seufzte die Weihnachtsfrau und parkte den schweren Schlitten in der Doppelgarage, ihr Mann packte indes vom Holzstapel an der Hauswand ein paar Scheite in einem Korb zusammen.

            „Hoch die Hände, Wochenende!“, jauchzte er, während er durch den Flur in die Wohnstube zum Kamin stampfte.

            „Schuhe aus!“, brüllte die Frau des Hauses und stellte ihre eigenen Stiefel auf den Aufnehmer neben der Tür. „Oder lieber: Hoch die Füße!“, ächzte sie und holte aus der Kommode neben der Garderobe zwei Paar warme Kuschelsocken. Die dicken handgestrickten, die aus veganer Rentierwolle.

            Inzwischen war das Feuer im Ofen entfacht, eine Kerze brannte auf dem Tisch und das Teewasser kochte im Kessel. Zeit, beisammen zu sitzen, zu reden, zu lachen und den Tag nachzubetrachten. Sie machten es sich zusammen auf dem Sofa unter einer Decke bequem.

            „Wie war dein Arbeitstag, Schatz?“, begann der Weihnachtsmann.

            „Lustig, dass du das fragst“, kicherte die Gattin, „sonst ist das mein erster Satz, wenn du nach Hause kommst.“

            Sie gaben sich einen dicken Schmatzer, schmiegten sich eng aneinander und erzählten sich bis tief in die Nacht, welche Wünsche die Menschen heute an sie herangetragen hatten und was sie ihnen zum Geschenk machen würden.

            Dem Jungen, der mit seiner kleinen Schwester ganz vorn in der Schlange gestanden hatte, schenkte der Weihnachtsmann, dass der Vater sich Zeit nehmen würde, mit seinem Sohn mit den Spielsachen zu spielen, die er ihm zum Fest gekauft hatte. Jeden Abend zehn Minuten, nur sie beide.

            „Das ist was – für den Anfang!“, freute sich Mrs Santa und wackelte mit den müden Zehen. „Ich hoffe, dem Mädchen hast du auch zehn Minuten …?!“

            „Natürlich! … Was hat die Kleine sich von dir gewünscht?“

            „Das wird dir gefallen: dass ihr Bruder sich jede Woche wenigstens einmal für sie Zeit nimmt, um mit ihr zu spielen, nicht bloß mit seinen Freunden.“

            „Gar nicht so bescheiden, der Wunsch“, bemerkte Santa.

            „Machbar. Ist längst eingetütet“, lächelte seine Frau stolz. Sie nahm einen Schluck Tee und sah der Kerzenflamme einen Augenblick beim Tanzen zu. „Ich weiß, ich soll mich nicht einmischen“, sprach sie weiter, „aber dieser Mutter, die mit ihren vier Kindern bei dir war, …“

            „Jaaaaaaaaaaa, was ist mit der?“

            „Sie ist zwar deine Klientin, doch: Ich möchte ihr gerne etwas schenken, darf ich?“

            „Alles gut, Frau. Echte Geschenke gibt es nie genug! Woran denkst du?“

            „Ach, es ist vielleicht zu groß … Ich dachte da an ein klein wenig Zeit für sich selbst, um nach der Arbeit kurz herunterzukommen, um den Ärger vor der Wohnungstür zu lassen und nicht so kaputt zu sein, dass sie es kaum schafft, den Kindern das Abendbrot hinzustellen.“

            „Du meinst: Erst einmal in Ruhe einen Latte Macchiato trinken – so wie du das jeden Tag machst, mein Weihnachtsschatz?“

            „Exakt: Stumpf aus dem Fenster gucken und durchatmen. Oder in einer Zeitschrift blättern, ein paar Minuten die Beine auf der Couch ausstrecken oder im Bad mal ganz allein für sich sein.“ Sie rollte mit den Augen. „Meinst du, das geht? Bei mir ist das natürlich leichter, so ohne Kinder.“

            „Natürlich ‚geht‘ das“, antwortete der Weihnachtsmann, der sofort die passende Idee hatte. „Ich schenke den Kindern einen Plan!“

            „Einen Plan?“

            „Ja, Liebste, einen Plan – und das Verständnis – von Zeit.“

            „Das ist eine gute Idee!“ Mrs Santa war Feuer und Flamme. „Wenn die Kinder die Hausaufgaben (oder die Aufgaben im Haus), die sie ohne Hilfe erledigen können oder die Spiele, die sie zusammen spielen oder das Hörbuch, das sie alleine hören oder das Buch, das sie selbst anschauen können – wenn sie das alle zur gleichen Zeit tun, ergibt sich für die Mutter ein …“

            „… ein Zeitfenster ganz für sich, genau. Und wenn ich dem Baby obendrauf noch ein bisschen Zeit in Stille oder Zeit zum Kuscheln mit den Geschwistern oder zum Kinderwagenspaziergang mit der Patentante schenke, dann ist für alle gesorgt!“

            „Darauf trinken wir!“, freute sich Mrs Santa und erhob ihre Teetasse.

            Es wurde ein Abend voller Freude, wie sie erkannten, dass sie den Menschen das Richtige schenken würden. Das Paar, das sich im Alltäglichen aus dem Auge verloren hatte, bekam Zeit geschenkt, innezuhalten und sich neu zu sehen – einander zu sehen. Dem Einen, der im Büro nie eine Pause machte, weil er meinte, das alles sonst nicht zu schaffen, wurde die Zeit geschenkt, zu jeder vollen Stunde fünf Minuten lang vom Schreibtisch aufzustehen, sich zu bewegen, auf andere Gedanken zu kommen, mit anderen zu sprechen – um so viel produktiver zu sein und letztlich, um länger zu leben. Den Wunsch der Dame mit dem roten Wollschal, der die Ärzte noch maximal ein paar Wochen zu leben gegeben hatten, konnten sie allerdings nicht erfüllen. Für das vom Universum vorgegebene Zeitkonto gab es eben keinen Dispositionskredit, auch nicht zu den Feiertagen. Was sie ihr schenkten, war genügend wache Zeit und ausreichend Luft, sich von allem und allen zu verabschieden. Und so erhielten ihre Liebsten im gleichen Atemzug schon vor Weihnachten ein unerwartetes und sehr kostbares Präsent: den Wert der Zeit.

In diesem Sinne.

Euch und Ihnen allen eine wundervolle und wertschätzende Weihnachtszeit.

Claudia Kociucki

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