Found Places – das Bücherhotel Groß Breesen

Es ist ein Fundstück der besonderen Art: das Bücherhotel Groß Breesen, in dem meine Schwester und ich unser diesjähriges Schwesternwochenende verbringen.

Mit dem Auto geht es an Güstrow vorbei über Dörfer und Dörflein, eine B soundso, eine L irgendwas und schließlich ein gänzlich buchstaben– und nummernloses Sträßchen entlang, bis man endlich vor dem imposanten ehemaligen Gutshof parkt, in dem Conny Brock sich vor zwanzig Jahren ihren ganz persönlichen Traum erfüllt hat: den vom Bücherhotel irgendwo im Nirgendwo.

Inzwischen leitet Conny Brock das Hotel zusammen mit ihrem Mann Torsten und hat immer noch den Kopf voll Pläne: für die Jubiläumsfeier im September zum Beispiel. Oder für einen eigenen Literaturblog, vielleicht irgendwann einmal: Mit Erstaunen erfahre ich, dass es einen eigenen Fernstudiengang fürs Bloggen gibt.

Bereits beim Betreten des Empfangs müsste das Herz des Literaturliebhabers schon aus mecklenburgischem Kalkstein sein, um nicht in verzückte Schwingungen zu geraten. Herrlich ungeordnet in Kartons oder in Haufen auf Tischen und Bänken stapeln sich die Bücher zwischen Rezeption und Frühstücksraum. Und das ist nur der erste Eindruck, die Visitenkarte sozusagen: Im Laufe unseres langen Wochenendes wird es noch so viele Räume und Winkel zu entdecken geben! Zu spätabendlicher Stunde etwa werden wir im Musikzimmer (in dem zur Abwechslung die Bücher charmanterweise nach Farben geordnet sind) einen stillen Menschen antreffen, der sich eine Schallplatte von Scarlatti aufgelegt hat und fünf Minuten, nachdem wir uns mit unserer Lektüre zu ihm gesellt haben, scheu zur Tür hinaushuscht. Ja, Leser sind eigentümliche Wesen.

Während ihres Aufenthalts dürfen sich die Gäste nach Lust und Laune mit Lesestoff versorgen. Vom Witzebuch bis zur Hochliteratur ist für jeden was dabei. Sogar für den überzeugten Nicht– oder Kaumleser – und ich nehme mir am zweiten Tag vor, meinem Mann als Mitbringsel ein altes DDR–Kochbuch zu ertauschen. Als Tageslektüre für mich entdecke ich einen Band mit Briefen und Tagebüchern, die ich immer schon einmal lesen wollte. Meine Schwester fischt sich aus den rund 500.000 Büchern ausgerechnet den Frauenroman heraus, über den ich erst vor wenigen Tagen mit einer Freundin gesprochen habe. Auf der Suche nach einem schattigen Plätzchen im Freien übermannt uns eine unerklärliche Mattigkeit, und wir beschließen, in der hoteleigenen Gartenwirtschaft auszuruhen, bevor wir uns dem anstrengenden Geschäft des Lesens widmen.

Ein Bauernfrühstück, einen Erdbeereisbecher und eine gut gekühlte Weißweinschorle später ziehen wir auf Liegestuhl und Hängematte um. Meine Schwester knipst schnell noch ein Foto und ist bald darauf in Sarah Kuttners Mängelexemplar versunken.

Ich stelle fest, dass Maxie Wander mindestens so wundervoll schrieb, wie ich immer geglaubt habe … Arme Maxie, denke ich anderthalb Stunden später. Sie konnte sich 1976 nicht aussuchen, womit sie sich zu befassen hatte. Ich schon. Und für einen strahlenden Julitag wie diesen geht es in dem Bändchen doch recht viel um Krankheit und Tod. Was Leichtes muss her! Ich gehe ins Haus und durchstreife die Hallen auf der Suche nach frischer Lektüre. Im Foyer beobachte ich ein Pärchen mit einem Karton in den Armen: „Wir kommen zum Büchertausch.“ Prima, sagt die Dame an der Rezeption: einfach den Karton abstellen und sich pro zwei abgegebene Bücher eins aus dem Bestand aussuchen. So vermehrt sich auf wundersame Weise der Schatz des Bücherhotels. Und damit das schöne Hotel nicht irgendwann platzt, wandern die meisten Bände in die nahegelegene Bücherscheune, in der wir gestern Nachmittag schon die endlosen Reihen und Regalmeter bestaunt haben, in denen sich die Bücher bis unters Gebälk türmen. Ein Bibliothekar mit entsprechendem Ordnungssinn hätte seine helle Freude und könnte hier Jahre verbringen!

Ich grabe in einer der Kisten und ziehe ein Bändchen mit dem vielversprechenden Titel Lustige Geschichten heraus. Na bitte, das ist doch was. Ich gehe zurück in den Garten und zeige den Fund meiner Schwester.

Wir lesen weiter. Ab und zu blicke ich auf und über das weitläufige Grundstück. Da baumeln sie, die Seelen der anderen Gäste: auf den Bänken, zwischen den Rabatten, an den Gartentischen, in Bücher oder Gespräche vertieft, so wie wir, oder einfach nur die Natur belauschend. Ich stecke die Nase wieder in mein lustiges Buch.

„Du hast geschmunzelt.“ Die Stimme meiner Schwester holt mich in die Realität zurück.

„Geschmunzelt, igitt“, sage ich. „Sowas mache ich nicht.“

„Hast du aber.“

Ich lege den Finger zwischen die Seiten der sowjetrussischen Lausbubengeschichten und schaue zum Haus hinüber. Zum Gutshaus, hinter dessen schmucker Fassade sich zwei Dutzend gemütliche und großzügige Schlafzimmer, tausend über alle Etagen verteilte Leseecken und –nischen und ein originelles Einrichtungsallerlei aus Schönem und Schnickschnack verbergen.

Zwischen den Tischen der Gartenwirtshaft eilen ein junger Mann und eine junge Frau hin und her. Sie gehören zu einem liebenswürdigen und ungezwungenen Team, das nicht müde wird, seine Gäste mit leckerem Essen und Getränken, einem Lächeln, einem kleinen Schnack oder der Lösung eines wie auch immer gearteten Problems zu versorgen. Es hat ein Herz, das Haus. Und seine Wände pulsieren von Buchstaben, Wörtern, Geschichten. Wenn man müde ist, spürt man es besonders stark.

„Hier hätte es Mama gefallen“, sage ich.

„Habe ich auch gerade gedacht“, sagt meine Schwester. Einen Moment lang sind wir ein bisschen traurig. Dann lesen wir weiter.

„Wir wollten doch noch Fahrrad fahren“, sage ich.

„Mh–h“, macht meine Schwester.

„Zum Krakower See, zum Baden. Und nach Güstrow, Barlach gucken! – weißt du noch, wie unsere Eltern uns damals ins Museum getriezt haben?“

„Mh-h“, macht meine Schwester.

Das Buch macht sich schwer in meiner Hand, und auch mit meinen Augenlidern ist irgendwas. Ob es hilft, wenn ich die Augen kurz zumache? „Morgen müssen wir wieder nach Hause“, sage ich. Oder denke, dass ich das sage. Oder träume, dass ich denke, dass ich das sage. Etwas summt an meinem linken Ohr vorbei, vielleicht ist es ein sowjetischer Lausbub – und morgen ist unendlich weit weg.

Einen Aufenthalt im Bücherhotel Groß Breesen empfiehlt unbedingt

Ihre Kristin Lange

 

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