Historische Romane – gibt’s die?

2. Das 20. Jahrhundert

In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts – schon vor dem ersten Weltkrieg – setzte sich der Trend zur Trivialisierung fort. Hinzu kamen nationalistische Tendenzen, nicht nur in Deutschland. Der polnische Erfolgsautor Henryk Sienkiewicz (Quo Vadis, 1896) beispielsweise schrieb mit Krzyżacy (Die Kreuzritter) einen Roman, der die Themen Deutscher Orden und die Schlacht bei Tannenberg sehr einseitig thematisierte. Angesichts der gegensätzlichen Aufarbeitung der Geschichte in Deutschland ist das durchaus verständlich.

Es gab aber auch andere Entwicklungen. Große Schriftsteller nahmen sich historische Stoffe vor, andere begannen das Genre aufzulockern oder die Grenzen zu sprengen. Leo Perutz (1882–1957), ein österreichischer Schriftsteller, den man gemeinhin der phantastischen Literatur zuordnet, schrieb auch historische Romane. In »Nachts unter der steinernen Brücke« (1953), steht die Liebe zwischen dem Habsburger Rudolf II. und einer Jüdin im Mittelpunkt. Einen Grafen im 16. Jahrhundert verschlägt es in »Die dritte Kugel« (1915) nach Mittelamerika. Perutz ist erfreulicherweise heute nicht vergessen, die meisten seiner Bücher sind in aktuellen Ausgaben erhältlich.

Lion Feuchtwanger (1884–1958) war bereits zu Lebzeiten ein einflussreicher Schriftsteller. Seine Werke wurden und werden nicht nur gerne gelesen, sondern hatten auch Einfluss auf andere Schriftsteller. Er schrieb einige historische Romane, von denen »Jud Süß« (1925) und die »Josephus-Trilogie« (1932–1945) die bekanntesten sind.

Herausragend ist Thomas Mann (1875–1955) mit seinem Goethe-Roman »Lotte in Weimar« (1939). Die historischen Persönlichkeiten und Begebenheiten verflicht Mann zu einer fiktiven Geschichte, die so nie geschehen ist, die man aber in der Darstellung des Autors zu gerne glauben möchte.

Es gab auch so manchen Schatz, der heute erst noch gehoben werden muss. Ein Beispiel dafür ist der thüringische Autor Friedrich Thieme (1862–1945). Er arbeitete als Redakteur und schrieb Novellen und Romane in verschiedenen Genres. »Das verlassene Dorf« erschien kurz nach dem ersten Weltkrieg, sehr zum Bedauern des Autors. Er schreibt im Nachwort, dass er diesen Roman, der in der Zeit des Dreißigjährigen Krieges spielt, als seinen Beitrag gegen die Kriegstreiberei zu Beginn des 20. Jahrhunderts verfasst hat. Als der Roman fertig war (1914), war der Krieg allerdings schon ausgebrochen. Für diesen Roman hat der Autor gründlich recherchiert, was an den Fußnoten gut zu erkennen ist, die er –- sonst nicht üblich bei Belletristik – an manchen Stellen hinzugefügt hat.

Eine Reihe großartiger historischer Romane verdanken wir der österreichischen Schriftstellerin Gertrud Schmirger (1900–1975). Sie schrieb auf Wunsch ihres Verlegers unter dem männlichen Pseudonym Gerhart Ellert. Ihr erster Roman »Der Zauberer« erschien 1936 und handelt von dem Gelehrten Gerbert von Aurillac, der gegen Ende des ersten Jahrtausends unter dem Namen Silvester II. Papst wurde. »Die Johanniter« (1947) zeichnet romanhaft in vielen Episoden die Entwicklung dieses Ritterordens nach.

Erika Mitterer (1906–2001) ebenfalls Österreicherin und von Haus aus Lyrikerin, schrieb mit »Der Fürst der Welt« (1940) einen historischen Roman, der in die Zeit der Inquisition und Hexenverfolgung spielt. Hintergrund ist nicht nur diese Epoche, sondern sie setzt sich darin auch mit der gesellschaftlichen Entwicklung ihrer Zeit – dem Nationalsozialismus – auseinander, indem Sie Verhaltensweisen darstellt, die auch in ihrer Gegenwart eine Rolle spielen, beispielsweise die Denunziation, die sogar offiziell eingefordert wird. Das, so schreibt sie, haben nicht nur beim ersten Erscheinen, sondern auch bei der Neuauflage ein halbes Jahrhundert später die Leser erkannt. Wer diesen umfangreichen (700 Seiten), fesselnden Roman gelesen hat, wird sich mit anderen trivialen historischen Romanen danach schwertun. Zu hoch hatte die Autorin die Latte gehängt.

Ob ich Hans Franck (1879–1964) erwähnen darf, habe ich lange überlegt. Er schrieb inspirierter als viele seiner Kollegen und handwerklich auf allerhöchstem Niveau, hatte sich aber dem Nationalsozialismus verschrieben. Er ließ sich nicht nur auf die Liste der Schriftsteller setzen, die dem Führer treueste Gefolgschaft gelobten, sondern schrieb auch einige tendenziöse Werke. Für zwei Werke nehme ich ihn auf. Das eine ist die Novelle »Die Pilgerfahrt nach Lübeck«, in der er Bachs Reise zum damalig berühmten Komponisten und Organisten Dieterich Buxtehude (1637–1707) erzählt. Bach ging die 465 Kilometer von Arnstadt bis Lübeck im Jahr 1705 zu Fuß und verlängerte den bewilligten Bildungsurlaub eigenmächtig um 12 Wochen, was ihm später eine heftige Rüge von seinem Arbeitgeber einbrachte. Franck gestaltet diese Begebenheit um eine Liebesgeschichte mit der Tochter des Organisten mit einem unbefriedigenden Ende für das Mädchen. Der Roman »Friedemann« schildert das Leben des ältesten Sohnes von Johann Sebastian Bachs. Über diesen gab es schon einen Roman von Albert Emil Brachvogel ( (1824–1878), und der war außerordentlich beliebt, wurde wieder und wieder aufgelegt. Franck schrieb dazu: »Für diese auffallende Tatsache – denn von wievielen Büchern, die zur selben Zeit herauskamen kann Gleiches gesagt werden? – gibt es nur Eine Erklärung; jene, welche Liszt in die grimmigen Worte zusammengefaßt hat: mundus vult schundus.« Er führt dann weiter aus: »Brachvogels ›Dichtung‹ ist in der Tat übelster Schund, ein gewissenloses Machwerk. Man komme zu seiner Verteidigung nicht mit dem vielberühmten Hinweis auf die ›dichterische Freiheit‹! Wohl muß dem Dichter, wenn es die Gesetze seiner Kunst gebieten, das Recht zugestanden werden, Rückungen und Änderungen, Vereinfachungen und Überhöhungen vorzunehmen. Aber was unbeschadet des Künstlerlebens richtig sein kann, das hat auch in einer historischen Dichtung, vor Allem in einem biografischen Roman, richtig zu sein, schlechthin richtig.« Franck versuchte mit seinem 1964 erschienenen Roman eine Richtigstellung. Will man ihn lesen, muss man ihn sich antiquarisch besorgen. Die »Pilgerfahrt« ist allerdings ebenfalls ein Buch, das wieder und wieder aufgelegt wird, ohne dass es auch nur einen Hauch von Trivialität aufzuweisen hat.

Die Zeit des Nationalsozialismus in historischen Romanen aufzugreifen, gelang nicht sofort nach 1945. Kaum einer traute sich an diesen Stoff. Zwar griffen populäre Autoren wie Grass und Böll in ihren Werken auch auf diese Zeit zurück, doch wollen sich diese Werke nicht richtig in das Genre des historischen Romans einfügen lassen. 1958 veröffentlichte der Journalist Gregor Dorfmeister (1929–2018) unter dem Pseudonym Manfred Gregor den Roman »Die Brücke«, in dem er selbst Erlebtes um einen sinnlosen Volkssturm-Einsatz von Jugendlichen zum Thema machte. Bereits ein Jahr später wurde der Roman von Bernhard Wicki verfilmt und gilt bis heute als Klassiker unter den Antikriegsfilmen. Zwei Jahre später erschien vom gleichen Autor der Roman »Das Urteil« (1960), der sich mit der frühen Nachkriegszeit und der Problematik der alliierten Besatzung auseinandersetze. Es geht um einen Vergewaltigungsprozess gegen vier Soldaten der amerikanischen Armee in einer süddeutschen Kleinstadt. Auch dieser Roman wurde verfilmt – mit Kirk Douglas in einer Hauptrolle. Es ist natürlich die Frage, ob etwas, das so kurz zurückliegt, als historischer Roman gewertet werden kann. da aber einige Jahrzehnte die Zeit des Nationalsozialismus Gegenstand von unzähligen Romanen wurde, denke ich, ist es nicht falsch, hier zwei frühe Werke zu erwähnen.

Hans Werner Richter (1908–1993), Gründer und Mentor der Gruppe 47, veröffentlichte 1971 mit »Rose weiß Rose rot« einen Roman, in der der Niedergang der Weimarer Republik geschildert wird. Auch er war Zeitzeuge dessen, worüber er schrieb, viele seiner Leser damals aber schon nicht mehr, sodass auch dieser Roman eher als ein historischer wahrgenommen wurde. Leider ist er derzeit nur noch antiquarisch zu bekommen.

Für die Entwicklung des historischen Romans in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts sind zwei Autoren maßgebend: ein Finne und ein Italiener. Mika Waltari (1908–1979) schrieb mit »Sinuhe der Ägypter« (1945) einen Klassiker, der bis heute nichts von seiner Faszination verloren hat. Der Roman spielt in Ägypten zur Zeit Echnatons. 1954 schlug Hollywood zu und verfilmte den Roman. Die Wirkung war enorm, denn nun ließen auch andere Schriftsteller historische Romane in diesem Stil folgen. Üppig, monumental, farbenprächtig und abenteuerlich – und einfach im Stil und im Ausdruck. Es gibt bei Waltari keine komplizierten Satzgebilde, und das verschaffte ihm eine starke Leserschaft. Die Schicksalhaftigkeit des Lebens, die Unausweichlichkeit menschlicher Katastrophen sind in den meisten seiner Romane Thema. Sie wirken trotzdem nicht depressiv, weil ein stiller Humor seine Werke durchzieht. Umberto Eco (1932–2016), ein italienischer Schriftsteller, Wissenschaftler und Journalist legte mit »Der Name der Rose« (1980) einen Roman vor, der einen Boom von Kloster- und Mittelalterromanen nach sich zog.

Gegen Ende des 20. Jahrhunderts trat eine Autorin in Erscheinung, die bis heute prägend für den deutschen historischen Roman ist: Tanja Kinkel (*1969). Mit einer Romanbiografie über Lord Byron („Wahnsinn, der das Herz zerfrisst“) reüssierte sie 1990. Mit ihrem dritten Roman »Die Puppenspieler« (1993), der im 15. Jahrhundert spielte und wie so viele historische Romane das Thema Hexenverfolgung thematisiert, schrieb sie einen Bestseller, der 2017 vom ARD verfilmt wurde. Es folgten weitere historische Romane, zum Beispiel über den italienischen Abenteurer Giovanni Battista Belzoni, der zu einem Pionier der Ägyptologie wurde: »Säulen der Ewigkeit« (2008). Ihre Fähigkeit, gut recherchierte Stoffe lesbar, teilweise mit trivialen Mitteln, zu schreiben, erinnert an Mika Waltari. Sie hat aber einen eigenen Stil und wird niemals banal.

Zum Abschluss nenne ich noch den Schriftsteller Sten Rudolf Alexander Nadolny (*1942). Sein Roman »Die Entdeckung der Langsamkeit« (1983) ist insofern etwas ganz Besonderes, als er eine historische Persönlichkeit und dessen Leben nimmt, ihm aber eine spezielle Eigenschaft andichtet – nämlich die einer extrem langsamen Wahrnehmung. Nimmt man die oben zitierte Aussage Hans Francks zu Brachvogel zum Maßstab, dürfte so etwas gar nicht gemacht werden. Nadolny gelingt aber ein Werk mit einer ganz besonderen Ausstrahlung, und er förderte auch die Entstehung eines neuen Ideals der Lebensführung: der Entschleunigung. Mit einem Kapitel aus diesem Roman gewann Nadolny 1980 den Ingeborg-Bachmann-Preis.

Im nächsten Beitrag beschäftige ich mich mit historischen Romanen, die in den ersten zwanzig Jahren 20. Jahrhunderts erschienen sind. Bis dahin nehmen Sie sich vielleicht eines der erwähnten Bücher zur Hand – Sie werden Ihre Freude daran haben.

Ihr

Horst-Dieter Radke

Nachsatz: Die obige Zusammenstellung ist nicht repräsentativ. Ich habe aber die meisten der erwähnten Romane gelesen. Wo nicht, sind es Hinzufügungen, um das Werk des jeweiligen Autors etwas breiter zu zeigen. Es stellt keine Wertung dar, wenn ich Autorinnen und Autoren nicht erwähnt habe.

Literaturtipps:

Leo Perutz: Nachts unter der steinernen Brücke, dtv, 2002

Lion Feuchtwanger: Die historischen Romane

Thomas Mann: Lotte in Weimar, Fischer

Friedrich Thieme: Das verlassene Dorf, Jenzig Verlag

Gerhart Ellert: Die Johanniter – Es begann in Jerusalem, Universitas Verlag

Hans Franck: Johann Sebastian Bachs Pilgerfahrt nach Lübeck, Gütersloher Verlagshaus

Manfred Gregor: Die Brücke, cbt

Tanja Kinkel, Die Puppenspieler, Goldmann

Sten Nadolny: Die Endeckung der Langsamkeit, Piper

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