Ingrid empfiehlt zu Weihnachten: Celeste Ng – Was ich euch nicht erzählte

Ein Roman über eine Familie, über Liebe, Erwartungen, Geheimnisse und Verletzungen. Mein Lese-Highlight des Jahres ist keine gewöhnliche, keine leichte Kost. Komplex, dicht, klug und sehr berührend. Unbedingt empfehlenswert.

„Lydia ist tot.“ Damit beginnt die Handlung an einem Morgen im Frühjahr 1977. Lydia, das sechzehnjährige Lieblingskind von James und Marilyn Lee, war zwei Tag lang verschwunden. Jetzt liegt sie ertrunken am Ufer des Sees nahe der Kleinstadt in Ohio, in der sie mit ihrer Familie lebte. Die Tragödie erschüttert die scheinbar so wohl geordnete Welt der Lees. James, Sohn chinesischer Einwanderer, stürzt sich in eine Affäre, Marilyn und Lydias Bruder Nath begeben sich auf Spurensuche. Sie glauben an ein Fremdverschulden, obwohl die Polizei keine Hinweise dafür findet. Nur die elfjährige Hannah, die immer am Rande steht, beobachtet stumm, was in der Familie passiert.

Was klingt wie ein Thriller, ist eine eindringliche Geschichte über die komplexen Beziehungen in einer Familie. Über Eltern, die ihre Unzulänglichkeiten und Wünsche auf ihre Kinder projizieren, statt ihnen zuzuhören. Über Hilflosigkeit und fehlende Kommunikation. Der Roman geht weit zurück, bis zu dem Moment, in dem aus der ehrgeizigen, begabten Amerikanerin Marilyn und dem Chinesen James, Professor in Harvard, ein Paar wird. Nach der Hochzeit muss Marilyn ihr Medizinstudium für die Familie aufgeben, aber sie vergisst ihre Träume nicht. Sie tut alles, um zu verhindern, dass ihre Tochter in die gleiche Falle tappt und ihr Leben als Hausfrau vergeudet. James, der aufgrund seiner Herkunft immer ausgegrenzt wurde, wünscht sich wiederum nichts sehnlicher, als dass seine Kinder so sind wie alle anderen. Lydia schafft es nicht, sich gegen die drängenden, lähmenden Erwartungen ihrer Eltern zu wehren. Stattdessen flüchtet sie sich in ein Gespinst aus Lügen. Allein die stille Hannah ahnt etwas von den Problemen ihrer Schwester.

Wer ist verantwortlich für Lydias Tod? War es wirklich der Nachbarsjunge, mit dem sich Lydia traf? War es Mord oder Selbstmord? Ist Lydia an den unerfüllten Träumen ihrer Eltern zerbrochen? Oder an ihrem Anderssein, Andersaussehen? Celeste Ng, deren Eltern aus Hongkong in die USA einwanderten, gibt jedem Mitglied der Familie eine Stimme, auch Lydia. Und am Ende weiß der Leser, die Leserin: Alle haben zu der Tragödie beigetragen, obwohl niemand etwas Böses wollte.

Ich bin in dem eleganten, großartig konstruierten, nie pathetischen Roman völlig versunken. Für mich ist er vor allem eins: ein eindringliches Plädoyer dafür, einander zuzuhören und miteinander zu reden. Lassen Sie sich wie ich davon ergreifen – und nehmen Sie sich’s zu Herzen!

Ihre
Ingrid Haag

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