Ins Land der Stille

Ich verstehe das. Ehrlich, ich verstehe das! Bei jedem meiner Nachbarn ist genau wie bei uns mindestens eine Ferienreise ins trübe Wasser des großen Corona-Sees gefallen. Und genau wie ich wollen auch die Nachbarn sich etwas Schönes gönnen, einen kleinen Ausgleich für entgangene Urlaubsfreuden. Es gibt in diesem Sommer viel Schönes in unserer v. C. eigentlich recht ruhigen Straße. Bis jetzt zähle ich drei neu gestaltete Vorgärten, zwei frisch renovierte Bäder und mindestens sieben akkurater denn je gestutzte Hecken. Zwei Schuttröhren. Ein Baugerüst. Ich auf meiner neuen, bunten Gartenbank ‒ mein Schönes für entgangene Urlaubsfreuden ‒ kann da eigentlich nur zur neurotischen Zicke und irgendwann zur grantigen Alten werden, mit Ohrenstöpseln plus Mickymaus und trotzdem diesem zuckenden Muskel über den missgünstig verkniffenen Lippen.

„Kannst du mich wenigstens ein bisschen verstehen?“, fragte ich meinen Mann neulich. Und dann, als er nicht antwortete: „Ist das etwa dein Du wirst immer mehr wie deine Mutter-Gesicht?“

Oder ich kann ‒ zweite Lösung ‒ meine Flucht planen. Und damit habe ich gestern Nachmittag begonnen. Bei Ecosia habe ich Suchbegriffe wie „Ferienhaus“ oder „Ferienwohnung“ mit solchen wie „abgeschieden“, „einsam“ oder „Alleinlage“ kombiniert. Und staune seither. Über runde Zimmer in Leuchttürmen, Kemenaten in Erkertürmen mittelalterlicher Burgen und karge Kammern in Schweigeklöstern. Über Baumhaus-Refugien, Hausboote, Tiny Houses, eigens windschief gebaute moderne Hexenhäuschen, Workation Retreats, wow! ‒ sowie Korn-, Malz-, Wind- und Wassermühlen, Himmel, was sich nicht alles zermahlen lässt.

Ich will sie. Ich will sie alle. Ich will dahin, wo Stille ist. Und wenn ich es recht bedenke, würde mir dafür auch eine Hütte im Wald genügen: Bett, Herd, Ofen, Schemel. Freisitz mit Tisch und Bank. Hier würde ich sitzen und der Stille lauschen. Vogelzwitschern dürfte sein, da bin ich großzügig. So ruhig aber wäre es ansonsten, dass ich es mitkriegen würde, wenn eine Raupe vom Blatt fällt, eine Eierschale beim Schlüpfen eines Jungvogels zerbricht, sich die Blüten der Prachtwinde an der Hauswand unter dem Kuss eines morgendlichen Sonnenstrahls zart entfalten oder eine Ameise Pipi macht. Machen sie Pipi?

Egal. Von solcher Stille aus könnte ich weiterreisen zu ganz anderen Orten. Tief nach drinnen nämlich, in den Klassenraum einer Volksschule im Erzgebirgischen vor achtzig Jahren, nur ein Beispiel. Dreißig Erstklässler, alle brav gescheitelt oder bezopft. Eins der kleinen Mädchen zieht beim Blick zur Tafel kurzsichtig die Brauen zusammen, auf eine Weise, die die spätere Stirnfalte erahnen lässt, und ich frage mich, ob man wohl ‒ vorbei. Es lässt sich nur schlecht darüber sinnieren, ob man die eigenen Eltern auch ohne alte Kinderfotos erkennen würde, wenn man zuerst die Frage klären muss, was die Einzelperson aus dem Haus gegenüber zwingt, mit sieben (in Worten: sieben) Auto- und Kofferraumtüren zu klappen, bevor sie sich in ihren Wagen setzt und losfährt.

Zurück zu meiner einsamen Hütte. Vor ihr säße ich bis in die Nacht. Riesig der Wald, gewaltig der Sternenhimmel, stäubchenklein ich. Und so fremd und ungewohnt das Licht meiner Petroleumlampe, dass sich Fuchs und Uhu wunderten. Angst so allein im Wald? Hätte ich nicht. Soll er mich doch holen, der Uhu, und mich über die Wipfel davontragen. Schnell würden er und seine Brut spitz kriegen, dass ich ungenießbar bin. Und dann würde ich dort droben zusammen mit zwei zerzausten Uhubabys über den Nestrand spähen und später ‒ aber es lässt sich so schlecht darüber sinnieren, wie es ist, aus nächster Nähe jungen Uhus bei ihren ersten Flugversuchen zuzuschauen, wenn das Njäääääää einer Flex in die inneren Bilder fährt, um einen Pflasterstein vorgartengerecht zu zerteilen.

„Wenn alle still auf ihrer Bank vor dem Haus sitzen und einfach ihren Gedanken nachhängen würden“, werde ich am Abend zu meinem Mann sagen, „dann gäbe es viel mehr schöne Geschichten auf der Welt!“

„Aber keine Bänke, um darauf zu sitzen und die Geschichten aufzuschreiben“, wird er sagen. „Nicht mal Häuser.“ Und dann wird er wieder dieses Gesicht machen. Dieses spezielle.

Ihre

Kristin Lange

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