Jürgen liest: Jürgen Lodemann – Siegfried und Krimhild

Die Lektüre war wie ein Streich mit dem Schwert Balmunk über meinen Schädel. Seit frühester Jugend fragte ich mich, wieso zur Hölle mein Held Siegfried umgebracht wurde, und dazu noch hinterrücks von diesem Arschloch Hagen von Tronje. Jürgen Lodemann gibt die endgültige Antwort, in dem wahren Lindwurm von Roman „Siegfried und Krimhild“ aus dem Jahr 2002, der das mittelalterliche Heldenepos über Siegfrieds Tod und den Untergang der Burgunden erzählt. Und auf welch spektakuläre Weise die Geschichte neu erzählt wird!

Okay, dies stimmt so nicht ganz. Lodemann geht vom originalen „Lied der Nibelungen“ aus, das um 1200 niedergeschrieben wurde. Aber er hat es als gelernter Philologe auch ganz genau gelesen. (Kann hier im Einzelnen nachverfolgt werden.) Zum Beispiel ist es überhaupt nicht sicher, ob die Person Siegfried im Epos wirklich gegen den Drachen gekämpft, in dessen Blut gebadet und eine verwundbare Stelle zwischen den Schulterblättern hat. Denn als einzigen Gewährsmann für diese Geschichte präsentiert uns der Erzähler den späteren Mörder Hagen, der uns Lesern diese Geschichte auftischt, um Siegfried in einem schlechten Licht dastehen zu lassen und ihn als hirnlosen Haudrauf und Barbaren zu verunglimpfen. Erst durch die Rezeption des Nibelungenliedes seit den antifranzösischen Befreiungskriegen 1813ff und gipfelnd in Richard Wagners „Ring“ (EA: 1876) hat sich das Bild eines solchen blutspritzenden Totschlag-Siegfried in unserem Bewusstsein verfestigt.

Dagegen weist Jürgen Lodemann auf viele Textstellen im Original hin, in denen Siegfried seinem Namen die Ehre gibt: Siegen soll der Frieden. So legt er großen Wert darauf, die besiegten Feinde nicht etwa zu töten, wie es damals heldischer Brauch war, sondern sie zu einem gemeinsamen Gelage einzuladen und dann nach Hause zu entlassen. Auf diese Weise wirkt er für ein Friedensbündnis zwischen Burgund und Xanten in „Niderlant“, das heißt zwischen Ober- und Niederrhein. So kann man in Siegfried also einen Ritter sehen, der sich schon dem christlichen Ideal der Feindesliebe verpflichtet weiß und sie zur Grundlage seiner Politik macht. Jetzt klärt sich auf, wieso Hagen als Vertreter einer eigennützigen, nur auf die Interessen Burgunds und dessen Vergrößerung gerichteten Politik sich ihn vom Halse schaffen will. Und wenn Siegfried mit den ihm angedichteten unlauteren Magie-Mitteln wie Hornhaut und Tarnkappe unbezwingbar erscheint, dann ist es auch nicht mehr ehrenrührig, wenn ein Otto-Normal-Held wie Hagen dem Störenfried in den Rücken fällt.

Nun könnte man einwenden, dass sich Siegfried bei seiner ersten Ankunft in Worms in der Tat nicht ganz politisch korrekt verhält, wenn er König Gunther damit begrüßt:

„Alles was Ihr in Eurem Besitz habt, Reiche und Burgen, will ich Euch mit Gewalt abnehmen. daz sol mir werden untertân.“

Nicht die feine Art, sich als Krimhilds Bräutigam zu empfehlen. Als man ihm den Zweikampf verwehrt, gerät Siegfried in „heftigsten Zorn“ („zurnde harte sêre“), aber er lässt sich mit einem Begrüßungstrunk und der Erinnerung daran, dass er eigentlich wegen Krimhild gekommen ist, besänftigen. Was hier zum Ausdruck kommt, ist weniger ein barbarisches Rabaukengehabe als vielmehr jugendlicher Überschwang und gefährliche Unerfahrenheit; ist doch klar, der Erzähler muss den Leser darauf vorbereiten, dass Siegfried später gegen die Gewieftheit und Kaltschnäuzigkeit eines Heermeisters vom Schlage Hagen von Tronje keine Chance hat.

In Jürgen Lodemanns Roman, das Ergebnis fast dreißigjähriger Beschäftigung mit dem Thema, wird die Rolle des anderen Siegfrieds ordentlich ausgebaut. So propagiert dieser einen Religionsmix aus Gaia-Mythos und Urchristentum, die er im Zeichen der Kuh symbolisiert sieht, ein Symbol, für das auch ein untilgbares Sternbild am Winterhimmel ausgewiesen wird. In dieser speziellen urkommunistischen Religion liegt das Utopia einer Friedensordnung in einer wirklich erreichbaren Zukunft und nicht in einem jenseitigen Himmel, wohinein der Kirchenvater Paulus das Elysium verlegt und transzendiert hat. Siegfried sieht den Menschen als Ganzes, wo die Kirche die Verbindungen zwischen Leib und Seele, Geist und Körper zerschneidet, nach der Devise: Teile und herrsche. Er wendet sich gegen Neid und Besitzsucht und gegen das Bestreben der weltlichen und katholischen Kräfte, ein neues römisches Imperium zu errichten. So erweist sich Siegfried als Gegenspieler, als der wahre „Antichrist“ der römisch-katholischen Kirche, die Hagen von Tronje als Werkzeug gebraucht, um dem Friedensspuk mit einem beherzten Stoß in den Rücken ein für allemal zu beenden.

Seinen Roman gibt Jürgen Lodemann als die unterdrückte und verschollene Originalerzählung aus dem 5. Jahrhundert aus, die erst lateinisch und in der damaligen Sprache des einfachen Volkes, also in althochdeutsch notiert, dann ins irische Keltisch übertragen, im 19. Jahrhundert ins Englische und daraus, voilá, von Lodemann ins heutige Deutsch übersetzt worden sei. Der Roman ist wie ein mehrfach überschriebenes Palimpsest, das die Überlieferungsgeschichte des Nibelungenlieds noch einmal ironisch auf die Spitze treibt. Die Übersetzungen der lateinischen, alt- und mittelhochdeutschen und keltischen Zitate sind in roter Druckerfarbe hervorgehoben, so dass sie sich wie eine Blutspur durch das Buch ziehen. Wie sagte mein Lehrer Schmedes immer: Ein gutes Buch muss einen vor den Kopf stoßen, und sei es mit dem Balmunk.

Die Devise des Erzählers: „… im genauen Erzählen das herauszufinden, was wirklich geschehen ist.“ Genau, der Erzähler lässt sich Zeit, Siegfrieds Ermordung und Krimhilds Rache zu schildern, knapp 900 Seiten, in rhythmischer und bildkräftiger, am Mittelhochdeutschen geschulter Prosa, verliert niemals die Ruhe, weder bei der Ermordung Siegfrieds oder gar der blutsaufenden Schlachthausszene auf Etzels Burg. Heißt es in Dantes „Göttlicher Komödie“ am Anfang: „Lasst, die Ihr eintretet, alle Hoffnung fahren!“, so könnte ein entsprechender Satz über dem Ausgang des Romans stehen. Damit markiert Siegfrieds Ermordung den Beginn der leidgeprüften Geschichte Europas (denn Lodemann verlegt seinen Nibelungenroman in die Jahre 486f, als das Frankenreich sich mit der Schlacht von Soissons anschickte, die Nachfolge des Römischen Reiches anzutreten).

Okay, auch dies stimmt Gott sei Dank nicht so ganz. Indem der Roman mit seiner genauen Erzählweise das ganze Bild einer Sagenwelt erstehen lässt, in der neben dem siegreichen Hagen auch Siegfried seinen Platz hat, schafft er die Hoffnung auf den Sieg des Friedens – in unserer Welt.

Ihr Jürgen Block

Literatur:

Jürgen Lodemann: Siegfried und Krimhild. Roman. Stuttgart (Klett-Cotta) 2002.

Jürgen Lodemann: Siegfried. 33 Szenen. Die reale Geschichte (Theaterstück). Tübingen (Kloepfer und Meyer) 2015.

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