Jürgens Lieblingsmärchen: Märchen von einem der auszog, das Fürchten zu lernen

Auf das Thema Lieblingsmärchen bin ich gekommen, als Michaela erzählte, dass man sie mit Hänsel und Gretel jagen könnte. Das hatte mit ihrer ehemaligen Kinderfrau zu tun, einer Frau aus Ostpreußen, die mit ihr und ihrem Bruder immer und immer nur Hänsel und Gretel spielen wollte. Sie baute in der Küche mit Kissen und Tüchern ein Hexenhäuschen auf und legte Süßigkeiten auf den Tisch. Sobald aber Michaela die Kinderfrau in den Ofen stoßen sollte, war Schluss mit lustig, vor lauter Grusel und Herzklopfen fiel sie aus der Rolle, so dass Bruder Hänsel ihr Amt übernehmen musste. „Blöde Memme“, sagte er, oder ähnlich weise Worte, und strich die Schokolade ein. War das nicht total gemein? Okay, sie stand sowieso mehr auf Brausepulver, aber seit dieser Zeit kriegte Michaela Zustände, wenn sie an Hänsel und Gretel auch nur dachte.

Die Welt der Grimmschen Märchen erscheint auf den ersten Blick ganz schön barbarisch. Damit meine ich nicht nur brennende Hexen und verfressene Wölfe, sondern dass die Märchenfiguren nie offen sagen, was sie denken und fühlen. Eigentlich verfügen sie nur über ihre fünf Sinne, mit denen sie untereinander und mit ihrer Außenwelt in Kontakt treten können. Wir Leser erfahren sie als reine Sinnenwesen, die ihre Gefühle und Gedanken nur über ihre körperlichen Reaktionen verraten. Dieser konsequent objektive Erzählerblick von außen erinnert an den Stil eines Zeitungsberichts. Den Fragen, ob die Zeitung die Märchen beeinflusst hat oder umgekehrt, und ob die Grimmschen Figuren Vernunft besitzen, werde ich später mal mit mehr Muße nachgehen.

Also: Nie würde ein Hänsel dem Leser sein Herz ausschütten, oder in den Worten des Romantikers Novalis: das „innerste Leben der Natur in seiner ganzen Fülle“ auszudrücken versuchen. Hänsel als literarische Figur hat nicht mehr Fleisch auf den Rippen als das Knöchelchen, das er durch das Käfiggitter steckt. Die Übersetzung der körperlichen Reaktionen in Seelen- und Gefühlsaudrücke muss der allein auf sich gestellte Leser selber leisten.

Michaelas Geschichte führte dazu, mich zu fragen, welches Märchen bei mir die tiefsten Spuren hinterlassen hat. Die Antwort stand schnell fest: Das Märchen von einem der auszog, das Fürchten zu lernen. Wieso nur? Ich kann nicht sagen, dass ich damals besonders furchtsam war, eher war es so, dass die Eltern um mich fürchteten, kein Wunder, sie haben Granatenbeschuss und Flächenbombardierung des Zweiten Weltkriegs nur knapp und mit Splitternarben an Leib und Seele überlebt und sahen mich in derselben Gefahr, obgleich der Krieg längst aus, bzw. nach Korea und Vietnam ausgewichen war. Ich hielt mich auch nicht für dumm wie die namenlose Hauptfigur, die nichts konnte und deshalb zumindest die Kunst des Gruselns erlernen wollte. Da haben wir wieder die beschränkte Sinnenwelt der Märchen: Die Furcht gibt‘s nur in der Überschrift, aber die Figuren kennen nur körperliches Gruseln, wo ein Schauer über die Rückenhaut jagt. Vielleicht erkannte ich mich doch in dieser fühllosen Figur wieder, um die Welt, die in der Vorstellung meiner Eltern eine Welt des Krieges war, nicht fühlen zu müssen; denn eine Splitterbombe, die man nicht fühlt, kann einem auch nicht auf den Kopf fallen. Ja, am besten, man lässt das Fühlen ganz sein, dann gäb’s auch keine Kriege mehr.

Aber ich habe meine Kumpels nicht vom Kirchturm geschubst (höchstens gegen Heizkörper), ich schwöre, vom Galgen abgeschnittene Leichen hätte ich nicht unter meiner Decke aufgewärmt, und ich wäre nie und nimmer auf die Idee gekommen, mit Totenschädeln zu kegeln, oder, naja, als kleiner Pöks baut man ja manchen Scheiß. Okay, so zeigt sich der Fühllose als eine ganz besondere Märchenfigur, die, weil die Fühlsinne fehlen, nicht einmal in der sinnlichen Märchenwelt richtig zu Hause ist.

Der Held blieb fühllos und er wäre es wohl auch geblieben, hätte seine resolute Prinzessinnenbraut keinen guten Rat gewusst. Sie kippte ihm kurzentschlossen einen Eimer Wasser über den Kopf. Das war die Lektion fürs Leben. Was Leichen und Totenköpfe nicht vermochten, schafften die quirligen Fische auf seiner Rückenhaut: sie rührten ihn und ließen ihn seinen eigenen Leib fühlen: „ach was gruselt mir (…) liebe Frau! Ja, nun weiß ich was gruseln ist.“

Dieses Märchen lesen oder Gretel spielen ist wie ein über dem Kopf gekippter Eimer Wasser. Märchen sind nicht nur Geschichten, die (laut Ernst Bloch) die Hoffnung auf eine andere, bessere Welt aussprechen, sondern erst einmal und vor allem die konzentrierte Form einer virtuellen Realität, in der man mit seinem Kopf gegen harte Dinge stößt und so einen ersten Eindruck von realer Welt und sich selbst bekommt. Erst wenn man sich selbst spürt, kann man auch seinen Nächsten erkennen, zuerst als Wesen, das man sehen und anfassen kann, späterhin auch als lebendiges Wesen, das so ähnlich tickt und fühlt wie man selber. Von da ist es nur noch ein Schritt zur Erkenntnis von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit. Zurück zum Märchen: Dem furchtlosen Helden mussten erst die Sinne schwinden, bevor er und der Leser sich gruseln konnten. Das ist noch keine tiefe Regung der Gefühle, aber im Rahmen des Märchens hat er das Äußerste erreicht. Er lebte fortan unter fühlbaren Sinnenwesen in einer fühlbaren und barbarischen Welt.

Arme Michaela, die gar nicht mehr aus der Gretelrolle rauskommt! Wer immer noch behaupten mag, Märchen seien nicht barbarisch, dem gebe ich gern ihre Telefonnummer, um es ihr direkt ins Gesicht zu sagen.

Am Schluss möchte ich mich ausdrücklich bei den Grimms und natürlich bei Soraya für die Schule der Fühlbarkeit bedanken. Und als Vernunftwesen bewahre ich mir noch die Hoffnung auf eine Welt ohne Barbarei – dieses Mal gerne auch ohne Wassereimer.

Ihr
Jürgen Block

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