Best of 42er: Kristin entwickelt Figuren: „Sei ein Mann!“

Eine beliebte Schreibaufgabe zu Beginn eines Romanprojekts besteht ja darin, seine Romanfiguren zu einem Interview einzuladen. Sie zu befragen: Mit welchen religiösen oder sexuellen Prägungen sind sie aufgewachsen? Welches sind die wichtigsten Werte in ihrem Leben, wo liegen ihre seelischen Verletzungen und wunden Punkte? Die so gewonnenen Informationen sollen natürlich nicht alle in den Roman einfließen, sondern dienen dazu, dass der Autor sich so lange Gedanken über seine Figuren macht, bis er sie in- und auswendig kennt. Dadurch erlangen sie Dreidimensionalität und Glaubwürdigkeit im Handeln.

So weit, so plausibel. Die Gespräche allerdings, die in den Anfangszeiten meines Romanprojekts regelmäßig stattfanden, ähnelten weniger lockeren Interviews als vielmehr den berüchtigten Konfliktgesprächen, wie man sie mit störrischen Mitarbeitern führt. Meine männliche Hauptfigur und ich landeten in den ersten Monaten unserer Zusammenarbeit jedes Mal todsicher an dem Punkt, wo ich ihn anbrüllte, er möge aufhören, abwechselnd wie Thomas Manns minderbegabter Urenkel zu klingen oder wie ein beständig Witze reißender, dabei aber extrem unwitziger Kiezbulle unter dem Einfluss einer mir nicht bekannten Droge.

Eines Tages platzte mir der Kragen. „Sei ein Mann“, schrie ich. „Sei gefälligst bitte endlich ein stinknormaler Mann!“ Ich sprang auf und wollte ihn am Schlafittchen packen, aber ‒ da war nichts. Kein Schlafittchen. Nichts.

Und er? Gähnte bloß und verdrehte die Augen.

Das heißt, er hätte sie verdreht.

Wenn er welche gehabt hätte.

Und da dämmerte es mir. Der Mann, sollte es denn einer sein, hatte nicht einmal Augen, geschweige denn eine Augenfarbe. Oh, ich kannte ihn bis in den tiefsten Winkel seiner Seele! Er hatte eine nicht unproblematische Kindheit gehabt, eine dominante Mutter, einen schwermütigen Vater … Mir war sogar bekannt, dass seine erste Freundin Kiki geheißen hatte, und dass sein erster Sex unter den starren Blicken einer Phalanx von Kuscheltieren auf Kikis Jugendbett stattgefunden hatte. Es war nicht entscheidend, aber es war so gewesen. Da war so viel gewesen! Und doch hatte die ganze Zeit etwas gefehlt.

Eine schlechte Figurenmutti war ich. Eilig und zerknirscht stattete ich ihn mit einer Augenfarbe aus. Grün. Natürlich grün, was sonst. Der Rest folgte schnell. Da ich einmal dabei war, schenkte ich ihm dunkelblonde Haare, einen angenehmen Eigengeruch und eine zwar sportliche, in untrainierten Zeiten jedoch rasch zu Fülligkeit neigende Figur. Das Paar Hände, das ich ihm im Überschwang spendierte, nutzte er sofort dankbar dafür, sich den erstbesten Gegenstand zu schnappen, der zufällig herumlag. Es war ein USB-Stick, das weiß ich noch. Von seiner Eigenart, mit Gegenständen zu spielen, hatte ich nichts geahnt.

„Und jetzt zu dir“, sagte ich beim nächsten Treffen zu seiner Partnerin, meiner weiblichen Hauptfigur. Da hätte ich schon wieder ausrasten können. Allein, wie sie da hockte: verhuscht, halb durchscheinend, beinahe körperlos.

„Lass sie in Ruhe, ja?“, blaffte meine männliche Hauptfigur und rückte näher an sie heran. So nah, dass sie durch den Stoff seines Hemds seine Körperwärme … Hach, die Frauen unter Ihnen wissen schon.

Sichtlich belebt begann sie, sich in ihrem Stuhl zu regen.

„Wo sind wir hier eigentlich?“, fragte sie mit viel tieferer Stimme, als ich erwartet hatte. Sie sah sich um. „Das ist doch kein Café, oder?“

Sie war so niedlich! Sie saß da, schlank, aber nicht dünn, in ihrem Blümchenkleid und mit Docs an den Füßen.

„Nein“, sagte ich. Ich schämte mich. „Das ist ein Verhörraum.“

„Ach so“, sagte sie nur.

„Aber das nächste Mal gehen wir in ein Café, versprochen“, beeilte ich mich zu sagen. Ich hatte eine Idee. „Es gibt da ein hübsches orientalisches in der Dorotheenstraße, da kannst du Baklava essen, bis du platzt.“

„Die mag ich“, sagte sie. „Manchmal nehme ich welche mit nach Hause, und dann …“

„… kippst du dir Eierlikör drüber“, sagte ich. „Ich weiß.“

Sie hob den Kopf und sah mich zum ersten Mal voll an. Grau. Ihre Augen waren grau, mit einer Spur Ostsee darin, wenn der Morgendunst sich verzieht.

Ab da fluppte es. Irgendwie konnten meine Lieblinge ab da normal reden.

Ihre Kristin Lange

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