Kristin liest: Whitney Scharer – Die Zeit des Lichts

Paris 1929. Die junge Lee Miller, frisch aus den USA eingewandert, träumt als ehemaliges Vogue-Model von einem Leben hinter der Kamera statt davor. Doch die zunächst undurchschaubare Szene der in künstlerischem Aufruhr befindlichen Metropole kann Lee vorerst keine neue Heimat bieten. Dass sie ihren materiell wie ideell einzigen Schatz, die alte Graflex-Kamera ihres Vaters, kurz nach ihrer Ankunft in Paris in einer Opiumhöhle verbummelt, macht die Sache nicht besser.

Doch das Blatt wendet sich. Als Lee dem bekannten Fotografen Man Ray begegnet und durchsetzt, dass sie ‒ zuerst als Assistentin, dann als Partnerin ‒ in seinem Studio mit ihm arbeiten darf, scheint die Erfüllung ihres Traums in greifbare Nähe zu rücken. Die künstlerische Vereinigung geht mit der physisch-erotischen einher, und es folgen Monate rauschhafter Verliebtheit und grenzenlosen Schaffensdrangs. Auf diesem Höhenflug gelingt es Lee sogar, eine Arbeitspanne kreativ umzumünzen. Sie (die Panne) wird später als Polarisation in die Geschichte fotokünstlerischer Techniken eingehen.

Das Leben ein Fest. Ohne zu viel zu verraten: Wieso überrascht mich hundert Seiten weiter ein fieser künstlerischer Verrat Man Rays an seiner Partnerin nur noch milde? Noch weniger seine sorglos-kaltschnäuzige Rechtfertigung, als Lee ihn deswegen zur Rede stellt? Vielleicht, weil die anfängliche Euphorie des Liebes- und Künstlerpaars da längst gekippt ist, längst Eifersuchtsdramen und Enttäuschungen das Zusammenleben bestimmen. Und ich ohnehin ahne, dass die miesen Szenen nicht zwangsläufig und für alle Zeiten in solchen wilder Versöhnung münden werden. 

Das Ganze in klarer, unaffektierter Sprache. Was mich besonders an der Geschichte über die später bedeutende Kriegsfotografin Lee Miller einnimmt, ist, dass ich an der Entstehung berühmter Werke teilhaben darf. Dass ich dabei bin, wenn Lee und Man Ray mit einem Armschutz aus Metall erst herumalbern und dann beginnen, mit ihm zu experimentieren. Ich kann nachschlagen, z. B. in meinem geliebten Buch Photographie des 20. Jahrhunderts vom Taschen Verlag, in dem allerdings, ups, Lee Miller keine Erwähnung findet. Dann eben bei Ecosia: Wie habe ich mir einen metallenen Armschutz vorzustellen (Antwort: gitterartig)? Wie sieht Polarisation aus (geisterhaft)? Und wie Lee Miller selbst (wunderschön!), oder der berühmte Man Ray (etwas ältlich, erster Eindruck)? Die Zeit des Lichts ist einer der Romane, die mich nicht nur aufs Feinste unterhalten, sondern auch einladen, tiefer einzutauchen in eine Epoche, eine Kunstrichtung, eine Lebensgeschichte. Mein Tipp also: Lesen Sie den Roman, falls sie a) Fotografie, b) Paris, c) die Zwanzigerjahre, d) gute Geschichten über das Ringen von Frauen um Unabhängigkeit oder d) alles zusammen mögen!

Ihre
Kristin Lange

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