Musik und Schreiben

Musik hat ihren eigenen Kopf. Da hat man vor zig Jahren, gar nicht mehr wahr, noch auf seinem Dual-Plattenspieler Songs von „Supertramp“ gehört, und nun dies: Letztens zappe ich durch die Arte-Mediathek und landete wie von Frau Muse geführt beim Supertramp-Konzert „Live in Paris 1979“. Der Aufschrei der Mundharmonika beamte mich schnurstracks zurück in die Schulzeit, mit Parka, Friedensbewegung und der ewigen Frage: Wann kommt die nächste Scheibe (Jugendspr. für: Schallplatte) raus? Gott, wie viele Jahre das her ist, und was für welche! Aber für das zeitlose Musikgedächtnis ist kaum ein Hauch vergangen, seit wir das letzte Mal auflegten: School.

Dasselbe in Grün bei den „Rolling Stones“, die mir über Kopfhörer die Ohren vollballerten, als ich vor paar Jahren meinen ersten Roman schrieb. Bin ja nicht so der Stones-Fan, überhaupt nicht, lag vor meiner Zeit, aber nur mit diesem englischen (engelhaften) Südstaatenblues konnte ich meine Helden aus meinem Buch „Heilungsreisenden“ weichkochen und zum Sprechen bringen. Vielleicht wird man eines Tages Keith Richards Gitarrenriff oder Mick Jaggers Hüftschwung in Wortwahl und Tonalität der Romansprache wiederfinden. Auch wenn das Schreiben keine Quälerei war, bin ich sofort wieder drin, wenn es heißt: Let it bleed.

Bei meinem zweiten Roman musste schon härterer Stoff her, denn er behandelte die Sozialgeschichte der Prostitution zwischen und nach den Weltkriegen, mit deren Folgen, Hand aufs Herz!, alle Familien auf der Welt zu tun hatten und haben, ähem. Also Frank Zappa. Wieso? Seit Schul- und Studentenzeiten kannte ich die Scheiben „Zoote Allures“ und „Sheik Yerbouti“, doch damals stießen die hektischen Rhythmus- und Tonartwechsel bei mir auf Unverständnis. Aber diese Art von Musik war genau das Richtige, um die steinernen Verhältnisse in meinem Buch „Freihafen“ zum Tanzen und meine Figuren ans Limit zu bringen. Wenn sich dann Zappas E-Gitarre räuspert und zu einem der unwiderstehlichen Soli ansetzt, fließen die Flüsse aufwärts. Das Gitarrensolo ist die absolute, von Gut und Böse losgelöste Fantasie. In der Welt der neueren Literatur ist der Ich-Erzähler die Sologitarre. Um sich ein Bild davon zu machen, hier die ultimative Live-Version von The Torture Never Stops.

Es soll ja Autoren und Autorinnen geben, die nur bei absoluter Stille und Isolation schreiben können. Arme Schweine, die ohne Musik-Muse (Euterpe mit Namen) auskommen müssen. Ich für meinen Teil brauche Snare-Drum und Hi-Hat, die mich hochpushen und in höhere Sphären pimpen. Vokale und Umlaute sind pure Engelsmusik, die, wenn es erst richtig rockt, unseren Leib und das limbische System aufmischen.

Musik, wohin man lauscht. Der Schriftsteller Uwe Timm sagte mal, dass er nur im bayerischen Sprachumfeld den Hamburger Tonfall seiner Erzählerstimme hört. Bei mir ist es genau umgekehrt. Ich brauche die Bäckereifachverkäuferin vom „Backhuus“, die genauso „snacken doud“ wie mein Erzähler. Die Sprache entwickelt sich doch nicht in schalldichten Köpfen, sondern draußen im Kontakt mit den Leuten auf der Straße, mit ihrem Gehupe und Gerase.

Kurzer Exkurs: In Dantes spätmittelalterlicher „Göttlichen Komödie“ kann der Erzähler den lieben Gott erst nur mit dem Hörsinn erfassen (Paradies, 14. Gesang). Yep, das Ohr ist ein göttliches Organ.

Jetzt gerade läuft die Musik von John Zorn. Mit seinem Masada-Projekt, einer Mischung aus Klezmer, Jazz und Hardrock in 300 Liedern, drückt er den Widerstand der jüdischen Masada-Festung gegen die anrennenden Römer (73 bis 74 n. Chr.) aus. Die Musiker dürfen nach Herzenslust improvisieren, während Zorn sie dirigiert. So geht auch Schreiben, wo man die Figuren einfach machen lässt, während sie an der Schnur des Erzählers hängen. Zwang und Freiheit sind keine Gegensätze, Musik und Literatur zeigen, dass sie zusammengehören, bitte schön der Beweis: Little Bittern.

Zum Schluss noch John Zorns polyphone Musik: Sechs Stimmen, jede für sich, doch in Harmonie verbunden. Hier können wir die Schönheit der Welt hören. Polyphon ist auch das Schreiben: Die Harmonie von Wortwahl, Grammatik, Fantasie, Satzbau, Tonalität und Satzzeichen. Den Vorgeschmack darauf kann man nicht bei Youtube schnorren, sondern muss wie im Supermarkt bezahlen: Madrigals.

Fazit: Schreiben ist schön und gut, aber mit Musik ist es erst schön, gut und wahr.

Ihr Jürgen Block

Teilen: