Nikita

Dorrits Liebesgeschichte

Als ich vor einigen Jahren für vier Wochen in einem Kindergarten in der Nähe von Kapstadt arbeitete, habe ich mich sehr bald gefragt, ob Erzieher wohl Lieblingskinder haben dürfen. Da ich ja keine echte Erzieherin war, sondern nur Aushilfe, hatte ich sehr schnell meine Lieblinge.

Interessanterweise waren es Jungs, die Mädchen waren mir einfach zu zickig. Dafür waren sie fast alle schlauer als die Jungs. Die Jungs waren zwar frecher und gröber, aber dafür geradliniger. Frappierend fand ich, dass diese geschlechterspezifischen Verhaltensweisen schon bei Vier- bis Fünfjährigen so deutlich waren. Insgesamt waren alle zwölf Kinder der Gruppe aber anhänglich – ich bin weder vorher noch nachher so oft umarmt worden – und auf ihre Art reizend. Diese Art vertrug sich bloß mit dem Anspruch, mit dem wir deutschen Hilfskindergärtnerinnen angetreten waren: Den Kindern etwas beibringen, anspruchsvoll spielen, womöglich ein Talent fördern. In der Realität konnten wir bestenfalls dafür sorgen, dass sich die Kinder nicht aus Übermut die Köpfe einschlugen – sie waren nicht aggressiv, nur sehr übermütig. Wir passten auf, damit bei den gemeinsamen Mahlzeiten alle etwas abbekamen und jeder einmal mit dem einzig funktionierenden Fahrrad des Kindergartens fahren durfte. Pädagogisch wertvoll war vermutlich nur das morgendliche Singen über Jesus, Wochentage oder Körperteile, wobei wir die Lieder erst einmal lernen mussten. Natürlich waren es die Mädchen, die sie uns beibrachten. Und zwei von den Jungs sangen nie mit, weil sie kein Englisch sprachen, sondern nur Xhosa. Meine Achtung vor Kindergärtnerinnen, insbesondere vor afrikanischen, stieg in jenen Wochen beträchtlich.

Mein absoluter Liebling war Nikita. Nikita wurde meist von seinem Vater gebracht, der dann auch den Fahrdienst für eine ganze Reihe von Kindern übernahm. Er besaß einen Pick-up, von dem mehr Kinder runterkletterten, als überhaupt darauf Platz zu haben schienen. Zuletzt stieg Nikita auf der Beifahrerseite aus und sein Vater und er verabschiedeten sich mit der Ghettofaust. Nikita begriff sehr schnell, dass er sich einiges erlauben durfte, was wir eigentlich nicht duldeten: Durch den Raum laufen, wenn er sitzen sollte, mit seinem besten Freund sprechen, wenn er still sein sollte. Er grinste mich dann schelmisch an – ich sehe dieses Grinsen noch auf einigen Fotos. Denn das war eine unserer Lieblingsbeschäftigungen: Fotos knipsen. Wenn ich die Kamera auspackte, umringten die Kinder mich, schnitten Grimassen und drängelten, um den besten Platz vor der Linse zu bekommen. Wenn sie sich selbst hinterher auf dem Display sahen, johlten sie laut. Als Abschiedsgeschenk ließ ich für jedes Kind ein Foto ausdrucken und während ich sie verteilte, wurde mir das Herz schwer, weil meine Zeit mit ihnen vorbei war.

An diesem letzten Tag kam Nikitas Vater Edgar in den Kindergarten, um etwas zu reparieren. Es ergab sich ein Gespräch mit ihm und er erzählte, dass er mit seiner Familie aus Simbabwe nach Südafrika gekommen sei und es manchmal ein hartes Leben für sie sei. Am Ende gelangen mir noch ein paar Fotos von Nikita und seinem Vater, endlich mal Fotos, auf denen keine Grimassen geschnitten wurden. Die Fotos schickte ich per E-Mail an Edgar, als ich – nach zwei Monaten in Afrika etwas orientierungslos – wieder in Berlin war.

Nikitas Vater antwortete mir nach einigen Wochen. Sie hatten die Fotos ausgedruckt und an die Wand gehängt. Und Nikita sprach noch immer von mir und würde mich gern zu seiner Geburtstagsfeier einladen.

Als ich einige Monate später nach Kapstadt reiste, besuchte ich auch den Kindergarten, aber Nikita ging inzwischen zur Schule und sein Vater hatte auf meine Nachricht nicht mehr geantwortet.

So bleibt mir von Nikita nur eines seiner Fotos, das an meinem Kühlschrank hängt und von dem er mir täglich zuwinkt. Natürlich ist mir klar, dass er inzwischen stramm auf seine Teenager-Jahre zumarschiert. Für seine und Afrikas Zukunft hoffe ich, er ist ein guter Schüler. In Erinnerung behalte ich ihn als verschmitzten Fünfjährigen, dessen Geburtstagsparty ich leider verpasst habe.  

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