Peter Weiss und die Weimarer Republik

Kultur und Literatur der Weimarer Republik stehen heute beim Leser in hohem Kurs, die historischen Krimis von Volker Kutscher und unserer Blog-Kollegin Joan Weng und natürlich die auf Kutschers Büchern beruhende Babylon Berlin-Serie zeigen dies deutlich. Daher möchte ich jetzt einen Schriftsteller in Erinnerung rufen, dessen literarisches Werk, obwohl in der Nachkriegszeit geschrieben, aufs engste mit der Weimarer Republik zusammenhängt.

Es handelt sich um Peter Weiss (1916 – 1982). Ein Welterfolg war sein Theaterstück Die Verfolgung und Ermordung Jean Paul Marats, dargestellt durch die Schauspielgruppe des Hospizes zu Charenton unter Anleitung des Herrn de Sade (1962ff) über die Französische Revolution. Seine wichtigsten Romane sind sein psychoanalytisch angelegter Abschied von den Eltern (1961) und natürlich die monumentale Ästhetik des Widerstands (drei Bände, 1975 – 1981).

Peter Weiss musste am Ende der Weimarer Republik aus Nazi-Deutschland fliehen, über Umwege landete er in Schweden, wo er bis zuletzt mit seiner Familie lebte. Dort arbeitete er als Maler, Filmemacher, Redakteur und Schriftsteller. In seinen Notizbüchern schreibt er, wie er zur deutschen Sprache zurückfand. 1947 interviewte er als Korrespondent einer schwedischen Zeitung den Verlagsgründer Peter Suhrkamp, und als dieser ihm seine KZ-Erlebnisse schilderte, da reichte Weiss plötzlich das Schwedische nicht mehr aus:

„Mit einem Mal war es leichter geworden, deutsch als schwedisch zu sprechen. Es war leichter, obgleich ich stammelte, oft nach Worten suchen musste. Die Laute waren mit Schrecken verbunden, doch auch mit Entdeckungen. Meine frühsten Begriffe hafteten ihnen an.“ (Notizbücher, S. 679)

So stand ihm eine fast schon vergessene, aber tief verankerte Sprache zur Verfügung, mit der er fortan literarisch schrieb. Da er von der Entwicklung der deutschen Umgangssprache abgeschnitten war, fiel es ihm schwer, Alltagsdialoge zu schreiben, und auch den Humor wird man in seinen Werken vergebens suchen.

Am 24.5.1978 schreibt er in den Notizbüchern, in denen er seinen Schreibprozess reflektiert und kommentiert, was ihm während eines Gesprächs mit Christa und Gerhard Wolf in der DDR einsichtig geworden ist:

„Ich spreche das Deutsch, das aus einem Deutschland kommt, das 1933 zu existieren aufhörte und das ich mir im Ausland lebendig hielt.“ (S. 708f)

Das war wohl auch ein Grund dafür, dass er sich in der Gruppe 47 gegenüber den Schriftstellerkollegen, fast durch die Bank Veteranen der Wehrmacht (und der Waffen-SS muss man heute hinzufügen), immer etwas fremd und als Außenseiter fühlte.

Peter Weiss nutzte das literarische Schreiben vor allem zur Selbsterforschung in einer Welt der Gewalt, Unterdrückung und des Widerstands. Eine Stelle aus den Notizbüchern, wo er etwas über sich und seine sechsjährige Tochter sagt, soll jetzt etwas näher betrachtet werden.

Am 4.11.1978 sagte seine Tochter zu ihm, der schon an einer Herzkrankheit litt, dass sie, wenn er stürbe, mit ihm sterben wolle. Dazu schreibt er:

„Meine Todesgedanken auch mit der schmerzlichen Regung verbunden, dass ich einmal von ihr scheiden muss, dass ich ihr nicht lange genug bei ihrer Entwicklung folgen darf, dass ich sie einmal der Sicherheit berauben werde, die meine Existenz für sie bedeutet -“ (S. 757)

An dieser sehr persönlichen Notiz fällt wohl zunächst auf, wie distanziert, vielleicht sogar etwas gestelzt sie formuliert ist. Das Ich beschreibt sich und seine Gefühle, als ob es sich selbst wie ein Objekt betrachten würde. Drei Mal heben die Dass-Sätze an, jedes Mal den Fokus ein bisschen weiter vom Ich wegrückend und immer länger und präziser werdend, aber, das ist die Pointe des Satzgefüges: in einen Gedankenstrich mündend. Jetzt ist der Leser allein mit sich und dem in ihm nachklingenden Satz.

Dies ist sozusagen das literarische Gegenprogramm zur Lakonie und Wortkargheit eines, sagen wir mal: Ernest Hemingway. Während die Short Storys eher von einfachen Satzbauplänen und vielen inhaltlichen Leerstellen gekennzeichnet sind, arbeitet Peter Weiss mit komplizierten Satzgefügen, die den Leser herausfordern, bei der Lektüre an die Grenzen des Begreiflichen und Verstehbaren zu gehen. Für ihn gehören Todesgedanke und Schreiben existentiell zusammen:

„Wie ich beim Todesgedanken an die Unfassbarkeit stoße, so mündet die (schriftstellerische) Produktivität ins Unbegreifliche.“ (S. 756)

Man könnte also durchaus vereinfachend sagen, dass Peter Weiss im Gegensatz zu vielen seiner deutschen Kollegen an einer Sprache festhält, in der sich die Komplexität der Welt in Wortwahl und Syntax ihrer Sätze widerspiegelt. Ihm selbst kommt diese Sprache wie aus einem anderen Zeitalter vor, wiewohl aus keiner anderen Welt, eben als Sprache der Weimarer Republik, die sich in vielen literarischen Werken von (um nur drei Namen von vielen zu nennen) Thomas Mann, Robert Musil oder Irmgard Keun bewährt hat.

Trotzdem stellt Weiss (nach der Lektüre des Mozart-Buchs von Wolfgang Hildesheimer) für sich fest, dass er die deutsche Sprache nicht bis ins Letzte beherrscht. Er verallgemeinert seine Erfahrungen auf ein Autor und Leser umfassendes Wir:

„… als sei sie uns manchmal fremdartig, nur wie ein Instrument, und als strebten wir dann zur Musik, wie um einen Trost dort zu finden: zum Verständnis der Musik brauchen wir ja keine Sprache -“ (S. 778)

Wieder ein doppelbödiger Satz, der sich zu einem Gedankenstrich zuspitzt. Danach ist nur noch Schweigen und Mozart. Wenn alle Sätze reißen, gibt es als allerletzten Trost noch die Musik.

Aber die Lektüre des abgerissenen Satzes von Peter Weiss darf nicht an diesem losen Ende stehen bleiben. Vielmehr ist es Aufgabe von uns Lesern, über dieses Verstummen und Verklingen hinauszugehen, Gedanken zu bilden und selbst mit dem Wortfinden und Satzbauen zu beginnen. Unsere Interpretationssprache muss ähnlich differenziert und genau werden wie das Vorbild, keine platte Kopie von Weimar, aber mit Chance unsere eigene.

Ihr

Jürgen Block

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