Tage wie dieser

Schietwettergeschichte von Sören Prescher

In der Nacht war Thees von einem chaotischen Traum in den nächsten geglitten und heilfroh gewesen, endlich daraus aufzuwachen. Lang hielt das Gefühl der Freude allerdings nicht. Beim Rasieren verletzte er sich am Kinn und beim hastigen Frühstück danach tropfte ihm ein Klecks Marmelade auf die neugekaufte blaue Anzughose. Natürlich ausgerechnet in den Schritt. Den Fleck auszuwaschen würde wahrscheinlich nicht viel bringen. Und selbst wenn es ihm gelänge, wäre da ein nasser Fleck, der seine Kollegen zu ziemlich eindeutigen Schlüssen verleiten würde. Nee, das wollte er nicht riskieren.

Also durchstöberte er seinen Kleiderschrank nach einem passenden Ersatz. Thees ahnte, was ihn erwarten würde, und war nicht überrascht, als er darin bloß den einen mausgrauen und ziemlich abgetragenen Anzugzweiteiler entdeckte, den er vor Jahren hatte ausrangieren wollen. Die restlichen Sachen waren in der Wäsche.

Missmutig zog er das graue Teil an und trat vor den Spiegel. Er fühlte sich nicht gut darin, aber was sollte er anderes tun, als darüber hinwegzusehen? Fast genauso unangenehm erschien ihm die kleine Wunde am Kinn, die noch immer überdeutlich zu sehen war. Bestimmt würden die Kollegen ihre dummen Witze darüber reißen. So, wie sie es immer taten. Ein Tag ohne ihre völlig unkomischen Sprüche wäre wie ein Körper ohne Wunde, in die man ein Salz streuen konnte.

Eher zufällig schaute er aus dem Fenster. Draußen regnete es in Strömen. Na toll, auch das noch! Leise fluchend stapfte er in den Flur und suchte nach seiner Regenjacke. An der Garderobe hing sie nicht. Hatte er sie neulich in der Kneipe hängengelassen? Nein, stopp, auf dem Weg zu Annette hatte er sie noch getragen. Vermutlich lag sie dort.

Thees blickte auf die Uhr. Bis zu ihr bräuchte er mindestens zwanzig Minuten. Beim Berufsverkehr um diese Zeit wahrscheinlich eher eine halbe Stunde und länger. Außerdem müsste er anschließend von Annette noch einmal die komplette Strecke zurück und danach weiter in die andere Richtung. Zum Arbeitsbeginn wäre er niemals rechtzeitig im Büro. Und da sein Chef das Gemüt eines wütenden Mastbullen besaß und sowieso nicht sonderlich gut auf ihn zu sprechen war, könnte jeder noch so kleine Fehler sein letzter sein.

Da probierte er es lieber ohne Jacke. Bis zum Auto waren es keine hundert Meter. Dennoch genügten sie, um ihn nass bis auf die Knochen zu machen.

Thees sparte sich die Kraft, sich darüber aufzuregen und machte sich daran, den Wagen zu starten. Das Radio sprang noch an, der Motor jedoch nicht. Nur Sekunden darauf erstarb auch das Radio. Mitten in einem Lied von den Ärzten. Schunder-Song. Wie passend.

Er bezweifelte nicht, dass es an der Batterie lag. Annette hatte ihm gesagt, dass er sie überprüfen sollte. Aber er hatte sie vertröstet und gesagt, dass das gute Stück schon noch ein Weilchen halten würde. Von wegen.

Nun sah er, was es ihm gebracht hatte. Diesmal konnte Thees sich nicht mehr beherrschen. Immer und immer wieder hämmerte er mit den Fäusten gegen das Lenkrad. Passanten gingen kopfschüttelnd an ihm vorüber. Einige von ihnen sahen aus, als würden sie schnellstmöglich das Weite suchen.

Wütend verließ Thees das Auto. Die nächste U-Bahn-Station befand sich gleich um die Ecke. Mit etwas Glück würde er es immer noch pünktlich ins Büro schaffen. Vorsichtshalber rannte er die wenigen Meter bis zu den Stationstreppen. Unterwegs peitschte ihm Regen ins Gesicht. Er merkte es kaum.

Auf dem Weg zum richtigen Gleis kämpfte er sich durch ein Meer von Menschen und war selbst darüber erstaunt, gleich die erste U-Bahn zu erhaschen. Zusammen mit einer Horde Jugendlicher in Ganguniform. Was für ein verrückter Morgen. Neben ihm stand ein grimmig dreinblickender Glatzkopf, der seine Freude über die geradeso erreichte U-Bahn offenbar nicht richtig teilen konnte. Also drehte sich Thees in die andere Richtung und versuchte, sich abzulenken.

Hatte er daheim eigentlich die Wohnungstür verschlossen? Unruhig trieb er seine Gedanken den Weg nach Hause zurück. Er wusste noch, wie er jackenlos auf die Uhr geschaut hatte und hinausgeeilt war. Hatte er die Tür dabei hinter sich ins Schloss gezogen? Ans Abschließen konnte er sich genauso wenig erinnern wie an das markante Klicken, wenn die Tür ins Schloss fiel.

Die Gegend, in der er lebte, galt nicht – als die sicherste. Aber selbst wenn der unwahrscheinliche Fall eingetreten und die Wohnungstür tatsächlich nicht richtig zu war, würde ein umsichtiger Nachbar das Versehen sicherlich ausbügeln.

Zumindest hoffte er das. Mit Müller hatte er sich letzte Woche wegen der Treppenreinigung in die Haare bekommen. Auch mit der ollen Wiczeck war nicht gut Kirschenessen.

Kurz überlegte Thees, ob er bei der kommenden Station aussteigen und mit der nächsten U-Bahn zurückfahren sollte. Dann allerdings käme er definitiv zu spät. Da war es sinnvoller, auf die gute alte Nachbarschaftshilfe zu hoffen.

Mit einem unguten Gefühl verließ er den U-Bahnhof in der Nähe seiner Arbeit. Einen Atemzug lang freute sich Thees darüber, dass der Regen etwas nachgelassen hatte. Dann rauschte direkt vor ihm ein Transporter mit hoher Geschwindigkeit vorbei. Eigentlich kein Problem. Blöd nur, dass sich direkt vor Thees eine dicke Pfütze auf der Straße gebildet hatte. Passenderweise trug er ja gerade seine helle Hose.

Wenigstens schaffte er es rechtzeitig ins Büro. Sogar auf den Punkt genau. Dennoch strafte ihn der Chef mit einem zornigen Blick und sagte, dass er ihn in seinem Büro sprechen wollte. Das verhieß nichts Gutes.

So vorsichtig, als würde er auf rohen Eiern laufen, folgte Thees ihm und setzte sich auf einen viel zu niedrigen Stuhl vor einem viel zu hohen Schreibtisch. Sein Chef thronte auf der gegenüberliegenden Seite in einem gewaltigen Ledersessel.

Was danach folgte, konnte Thees später nicht mehr so genau sagen. Er behielt vereinzelte Phrasen wie „Es tut mir leid, Ihnen mitteilen zu müssen“ und „Im Zuge der Umstrukturierung“ im Ohr, ging zu seinem jetzigen Ex-Schreibtisch und packte einige persönliche Habseligkeiten zusammen. Einige Kollegen heuchelten Mitleid und sagten irgendwas in der Art von „Kopf hoch, das wird schon wieder“.

Nichts davon war relevant.

Niedergeschlagen trat er hinaus auf die Straße. Was für ein grausamer Tag! Was hatte er nur getan, um heute dermaßen gestraft zu werden? Er war kein Katzenquäler oder Kinderschänder, er mochte keine Volksmusik und neigte auch sonst seines Wissens nach keiner einzigen Perversion. Dennoch schien sich das Schicksal gegen ihn verschworen zu haben. Nichts lief so, wie es laufen sollte.

Ohne Job und ohne Perspektive irrte er durch den Regen. Ab und zu nieste er und zweifelte nicht daran, dass er sich nun auch eine Erkältung eingefangen hatte. Bei seinem Glück würde es eine ausgewachsene Grippe werden. Als es dunkel wurde, stieg er in eine U-Bahn und fuhr nach Hause.

Natürlich hatte niemand die Wohnungstür verschlossen. Es wunderte ihn nicht weiter, als er die Räume sah, die heute Morgen noch sein Heim gewesen waren, und sich nun in einem kaum beschreibbaren Zustand befanden. Sämtliche Möbel waren umgestoßen und mit neonfarbenen Zeichen besprüht worden. Sein Marilyn-Monroe-Poster lag auf dem Boden und zeigte krakelig gemalte obszöne Gesten. Selbst das Bett hatten die Vandalen zerstört. Das einzige, das in diesem gigantischen Meer von Trümmern und zerstörten Besitztümern heilgeblieben zu sein schien, war das alte Sofa. Es stand nach wie vor an seinem ursprünglichen Platz vor dem Wohnzimmerfenster und strahlte Ruhe und Geborgenheit aus.

Zuerst marschierte er in die Küche, und entnahm dem, was früher einmal sein schmucker Kühlschrank gewesen war, eine unversehrte Dose Bier. Anschließend ließ er sich auf dem Sofa nieder. 

Er öffnete die Dose, wischte sich den ihm entgegenspritzenden Schaum vom Gesicht und nahm einen kräftigen Schluck. Dann schloss er für einen Moment seine Augen und bemerkte die herrliche Stille. Wenigstens die war ihm geblieben.

In diesem Moment klingelte das Telefon. Er wunderte sich nur darüber, dass es überhaupt heil geblieben war.

Vielleicht würde ihm gleich jemand „April, April“ rufen. Aber es war November. Angeekelt nahm er den Hörer ab und versuchte dabei nicht auf die klebrige Flüssigkeit zu achten, die die Wähltasten hinablief.

Annette war am Telefon, doch sie spendete ihm nicht den Trost, den er jetzt so dringend benötigte. Stattdessen erzählte sie ihm davon, dass sie mehr Freiheit brauchte und über ihr ganzes Leben nachdenken müsste. Sie meinte, dass es besser wäre, wenn sie sich für einige Zeit nicht sehen würden. Er hörte kaum mehr zu. Nicht nach diesem Tag.

Aus Angst vor weiteren Anrufen dieser Art wollte er den Stecker der Telefonschnur aus der Dose ziehen und hielt auf einmal das lose Kabelende in der Hand. Kopfschüttelnd durchquerte er das Trümmerfeld zum Sofa zurück. Er nahm einen weiteren Schluck Bier und betrachtete die nächtliche Skyline. Was würde heute noch passieren? Es war erst kurz nach neun, der Tag dauerte noch drei weitere grauenvolle Stunden.

Regen peitschte gegen das Fenster. Genauso, wie es sich für einen Tag wie diesen gehörte. Erschöpft lehnte sich Thees zurück und schloss erneut die Augen.

In dem Moment knirschte es zuerst, anschließend brach das Sofa unter ihm zusammen. Es krachte dermaßen geräuschvoll, dass Nachbar von unten gegen die Zimmerdecke hämmerte. Thees fand das urkomisch. Er begann zu lachen und es war ihm scheißegal, wie laut er dabei war.

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