The Secret Rose

Schietwettergeschichte von Jürgen Güls

Sie erwartete ihn nicht.

Und doch war er hier. Hatte der Welt beim Träumen zusehen wollen und gehofft, darüber seinen Zweifeln zu entkommen.

Es ging auf Ende Januar zu, und das Wetter konnte ungemütlicher kaum sein. Er hatte sich vorgestellt, begleitet vom Geschrei der Möwen stundenlang auf endlosen Sandstränden zu laufen und dabei den Gezeiten des Meeres und des Himmels zuzusehen. Stattdessen pendelte er zwischen Bistros und Restaurants, von einem Espresso zum nächsten, verbrachte so seine Zeit abwechselnd in Wind und kaltem bretonischen Regen sowie dem Gestank von verschüttetem Bier oder dem überteuerter Meeresfrüchte und unterbrach diese Routine nur gelegentlich, um im Presseladen nachzufragen, ob denn nun endlich die Zeitung von zu Hause eingetroffen wäre.

Zuhause. Einmal mehr schien ihm das ein seltsames Wort zu sein für die Leere, aus der er vor drei Tagen aufgebrochen war.

Ihr Blick war in den seinen eingedrungen, ohne Zögern und ohne jede Rücksicht, und dabei hatte ihn ein Gefühl der Scham erfasst, als wäre er ein Hochstapler, der sich des Betrugs überführt wusste, doch der Blick hielt ihn fest, bis er hatte glauben wollen, noch nie zuvor habe ihn ein Mensch wirklich angesehen … gesehen.

Wie Ertrinkende hatten sie sich aneinander geklammert, zwei Nächte lang und den Tag dazwischen, hatten das Zimmer nur für Frühstück und Abendessen verlassen, auch dann kaum ein Wort miteinander gesprochen und waren namenlose Fremde füreinander geblieben.

Am zweiten Morgen hatte er vergeblich am gedeckten Frühstückstisch auf sie gewartet, während der Stunden danach seinen Kopf in Kissen und Laken gepresst und den vergehenden Duft ihres Körpers geatmet, später dann wie in Trance seine Sachen zusammengepackt, die Hotelrechnung beglichen und sich auf die Heimreise gemacht.

Ohne dass er darum gebeten hätte, hatte man ihm dasselbe Zimmer zugewiesen wie bei seinem ersten Aufenthalt vier Monate zuvor, obwohl die Hotelangestellten durch nichts zu erkennen gaben, dass sie sich an ihn erinnerten.

Der schon bei seiner Ankunft kräftig wehende Wind hatte seither stetig an Kraft gewonnen, und seit der Nacht Orkanstärke erreicht. Fasziniert sah er durch das Fenster des Frühstücksraums die schaumgekrönten Wellen in endloser Folge auf die Küste zurollen, wo sie sich an den vorgelagerten Felsen brachen und an einigen Stellen als Gischtfontänen in die Höhe schossen. Kein Schiff würde bei diesem Wetter auslaufen können.

Er verfluchte seine Flugangst, die ihm keine Wahl ließ. Und ebenso wenig konnte er warten. Er wollte Gewissheit.

Morgen also. Morgen würde er sich zum Narren machen. Vielleicht würde er das.

Vielleicht hätte er sein Kommen ankündigen sollen. Vielleicht stimmte auch die Adresse nicht mehr, vielleicht war sie ja umgezogen, vier Monate waren eine lange Zeit, in der viel passieren konnte, vielleicht hatte sie in der Zwischenzeit einen Mann kennengelernt, einen anderen Mann, ganz sicher hatte sie das, vielleicht war sie schwanger, war mitten in den Hochzeitsvorbereitungen, vielleicht auch war alles ganz anders, vielleicht war er dabei, verrückt zu werden, und so stieß er ein weiteres Mal stumme Flüche gegen sich aus, weil er sich erst vor einer Woche dazu hatte aufraffen können, die große Reisetasche vollständig zu leeren, und er dabei ganz zuunterst auf dem Boden der Tasche das Buch gefunden hatte.

Die junge Frau an der Information des Fährhafens musterte ihn erstaunt. „Kein gutes Wetter zum Joggen“, meinte sie lächelnd.

„Das Schiff …“ stieß er hervor. „Das Schiff …“

„Das Schiff aus Portsmouth? Ja, es tut mir leid. Es wird wohl eine Stunde später eintreffen.“

Er schüttelte den Kopf. „Das andere … das andere Schiff. Ich meine das andere Schiff.“

„Welches andere Schiff?“

„Das Schiff nach Cork. Heute Abend.“

„Ach so. Das Schiff, das wir aus Portsmouth erwarten, ist dasselbe, das heute Abend nach Cork ausläuft. Was ist mit dem Schiff?“

„Es kann nicht auslaufen.“

„Wer sagt das?“

Er deutete auf das große Schild mit der Aufschrift Départ. „Der Orkan.“

Wieder erschien ein Lächeln im Gesicht der Frau. „Orkan? Wir haben Sturm, ja. Und langsam wurde es ja auch Zeit. Es ist schon reichlich spät für den ersten Wintersturm.“

Nervös fuhr er mit den Fingern durch seine zerzausten Haare. Die freundliche Unaufgeregtheit, mit der sie seine Befürchtungen zur Kenntnis nahm, ließ ihn seine Zweifel mit einem Mal nur noch als lächerlich empfinden. „Also gibt es keine Probleme?“

„Ich wüsste nicht welche“, gab die Frau mit großer Bestimmtheit zurück.

„Also gut. Ich werde da sein.“

Er würde da sein. Allein darauf kam es an.

Er setzte sich auf einen Stuhl der menschenleeren Wartehalle. Nach kurzem Zögern griff er in eine Innentasche der Jacke und holte ein dünnes Buch hervor. The Secret Rose: Love Poems of W. B. Yeats, las er stumm den Titel und fuhr dann mit Zeige- und Mittelfinger seiner rechten Hand sanft über die blassen blauen Schriftzeichen auf der Innenseite des Buchdeckels. „Grace Tobin“, flüsterte er. „Grace Tobin, 42 The Orchard, Myrtleville, Ireland.“ Von Neuem begann er, und bald klang der Name in seinen Ohren wider wie ein leises Rufen. „Grace … Grace … Grace … Grace …“

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