Was passierte mit Gregor Samsa?

Wer kennt nicht den berühmten ersten Satz aus der „Verwandlung“ von Franz Kafka:

„Als Gregor Samsa eines Morgens aus unruhigen Träumen erwachte, fand er sich in seinem Bett zu einem ungeheuren Ungeziefer verwandelt.“

Zwei Stichproben aus dem Internet zeigen, wie der Satz häufig wahrgenommen wird. Bei Wikipedia heißt es, dass Gregor Samsa in ein Ungeziefer „verwandelt wurde“, bei einem kürzlich eröffneten Blog aber, dass er sich in denselben „verwandelt hat“.

Entweder – oder. Entweder er wurde verwandelt, oder er hat sich verwandelt. Gregor Samsa ist entweder das passive Objekt der Verwandlung oder das aktive Subjekt. Ein Drittes gibt es nicht. Oder doch? Was ist passiert mit Gregor Samsa?

Kafka sagt genau: Gregor Samsa „fand sich verwandelt“. Besagt dies nicht gerade ein Drittes: Dass er weder als Opfer noch als Täter beschrieben ist? Er nimmt sich weder als reines Subjekt noch als reines Objekt wahr. Halb zog ihn die Verwandlung mit, halb sank er selber hin in seiner Käferwerdung.

Derlei Vorgänge, die sich zwischen Aktiv und Passiv abspielen, haben in der deutschen Schulgrammatik keinen eigenen Namen. Beim Geschlecht des Nomens ist es anders als beim Geschlecht des Verbs, da werden bislang nur zwei Geschlechter ausgewiesen, Aktiv und Passiv.

In der altgriechischen Grammatik gibt es tatsächlich noch ein drittes Geschlecht des Verbs: das Medium.

Dieses gibt die „Wirkungen der Handlung innerhalb des Bereichs des Subjekts wieder“ (Brockhaus Enzyklopädie (1971), bzw. bezeichnet eine „intensive innerliche Beziehung des Subjekts“ (Brockhaus Konservationslexikon (1902).

Das will ich an einem anderen Beispiel erläutern, an dem Sich-erschrecken.

Bald ist ja wieder Halloween und dann ist es guter Brauch, dass Kinder die Leute erschrecken, die Kinder sind Subjekte, die Leute ihre Objekte. Jeder Erschreckte aber kann für sich sagen: „Huch, ich erschrecke mich!“ Unter diesem zweiten Erschrecken versteht man, dass das Erschrecken bei ihm abläuft, aber nicht so, dass er sich aktiv selber mit einem Buh! oder einer Scream-Maske einen Schrecken eingejagt hätte. „Mich erschrecken“ und „mich erschrecken“ sind also zwei völlig verschiedene Vorgänge. Und obwohl das zweite „ich erschrecke mich“ ein grammatisches Aktiv zu sein scheint, meint es doch kein aktives Erschrecken einer anderen (oder der eigenen) Person. Das Sich-erschrecken verbleibt innerhalb der Person, es ist ein intensiver innerlicher Prozess, den die Person allein mit sich ausmacht, eben ein Medium.

Zurück zu Kafka.

Wenn Gregor Samsa „sich verwandelt findet“, dann scheint ein ähnlicher medialer Vorgang vorzuliegen. Er hat seine Käfermetamorphose weder als Subjekt aktiv und bewusst in Szene gesetzt noch passiv ohne eigenes Zutun nur geschehen lassen. Der Verwandlungsprozess läuft ohne Subjekt-Objekt-Trennung in oder besser an ihm ab. Oder auch nur in seiner Vorstellung – was aufs gleich hinausläuft, da dann eben seine Vorstellung gespalten und verwandelt wäre.

Einen solchen Vorgang können wir uns vielleicht nur mit Mühe vorstellen. Das liegt unter anderem daran, dass die deutsche Sprache uns eine in Subjekt und Objekt aufgespaltene Welt vorsetzt, in der ein immer handlungsmächtiges Subjekt den Ton angibt. Die Vorstellung eines solchen aktiven (grammatischen) Subjekts ist für uns so reizvoll, dass wir die Vorstellung kurzerhand auf die Realität übertragen und uns gerne selber auch als aktives (soziales) Subjekt sehen wollen, das seine Handlungsbedingungen souverän beherrscht. Pointiert gesagt: Die Grammatik verhext uns, ohne dass wir es wissen, leicht in einen Allmächtigkeitswahn.

Wenn man die „Verwandlung“ aufmerksam liest, wird man feststellen, wie häufig Kafka statt einem einfachen Aktiv oder Passiv das Medium als Genus verbi einsetzt. Es scheint so, als wolle er uns Leser den Glauben austreiben, dass man jede Situation nach Belieben beherrschen, verändern, gestalten, kurz: in etwas anderes verwandeln könnte. Dies schreibt er allerdings zu einer Zeit, nämlich am Vorabend des Ersten Weltkriegs, als die Gegensätze zwischen Individuum und Gesellschaft schon weit auseinanderklaffen. An einer individuellen Einflussnahme auf die gesellschaftlichen Vorgänge und den geschichtlichen Lauf war dann noch zu denken. Der einzelne Mensch war und ist noch – eingesperrt in das „stahlharte Gehäuse des Kapitalismus“ (Max Weber) – von seinen subjekthaften Fähigkeiten längst getrennt und enteignet. In dieser Lage wäre ein „sich verwandelt finden“ vielleicht das Höchstmaß an Subjekthaftigkeit, das ein moderner Mensch noch erreichen könnte. Kafkas „Verwandlung“ erweitert unsere Vorstellungswelt, indem der Erzähler bis an die Grenzen unserer Grammatik geht.

Ihr
Jürgen Block

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