Waugh-Therapie

Vor einigen Tagen traf ich zufällig einen Freund auf der Straße. Er machte einen ungewöhnlich heiteren, ausgeglichenen Eindruck und als ich ihn nach dem Grund fragte, entgegnete er, er befände sich mitten in einer sechsmonatigen Waugh-Therapie. Jetzt wunderte mich sein Zustand natürlich nicht länger und im Geiste strich ich ihn zufrieden von der Liste mit all meinen Freunden, um die ich mir aus diesem oder jenem Grund Sorgen mache. Wer eine Waugh-Therapie macht, dem kann so schnell nichts passieren.

WAS?

Sie haben noch nie eine Waugh-Therapie gemacht? Sie wissen nicht einmal was das ist? Also, wirklich! Dann wird es aber Zeit!

In einem Zeitalter, in dem nicht einmal mehr Verlagsnamen wie S. Fischer oder Suhrkamp sicheren Schutz vor grauenhaftem Satzbau, stümperhaften Dialogen und holprigen Vergleichen bieten, in einem solchen Zeitalter ist eine gelegentliche Waugh-Therapie einer der wenigen Auswege, als Leser bei klarer geistiger Gesundheit zu bleiben.  Im Grund ist es ganz einfach: Solange man in Therapie ist, liest man keinen einzigen anderen Autor und erfreut sich an köstlichen Metaphern, pointiertem Wortwitz und  messerscharfer Bosheit.

Zur leichteren Verwendung stelle ich Ihnen hier zwei verschiedene Therapiemodelle vor.

1.      Die kleine Kur

Haben Sie, aus welchem Grund auch immer, „Fifty Shades of Grey“ gelesen und fangen schon an, mit Ihrer inneren Göttin zu kommunizieren? Sie sehnen sich nach einer kurzen, aber wirkungsvollen Schmeichlung Ihres literarischen Empfindens?  Dann rate ich zur kleinen Waugh-Kur.

Bestens dafür geeignet sind die Titel:

Verfall und Untergang
Eine bitterböse, urkomische Erzählung über das Unglück des armen Pauls, der ohne sein Zutun hosenlos von seinem College fliegt und versucht, sich als Lehrer auf einem Provinzinternat der untersten Sorte durchzuschlagen. Mord, Frauenhandel, Liebe und Personal, alles, was man eben für einen gemütlichen Nachmittag auf dem Sofa braucht.

Tod in Hollywood
Dennis Barlow, gescheiterter Hollywoodschriftsteller und gescheiterter Dichter, arbeitet als Leichenwäscher für Tiere. Sein Herz gehört jedoch der Leichenkosmetikerin, die wiederum für ihren Chef, einen wahren Künstler der Einbalsamierung, schwärmt und sich schließlich auf Rat eines Kummerkastenonkels durch den Ofen schieben lässt. Die tragische Liebesgeschichte ist so grotesk, so abgrundtief böse,  so makaber – man liebt sie entweder oder man hasst sie. Gelesen haben sollte man sie aber auf jeden Fall.

2.      Die mehrwöchige Kur

Manchmal ist das einfach nötig, manchmal muss man sich eben etwas gönnen – und was gibt es Besseres, als einige Wochen reines Lesevergnügen?

Neben den schon für die ‚kleine Kur‘ angeratenen Titeln sollte man hier die Behandlung um einen oder mehrere der folgenden Titel erweitern.

Wiedersehen mit Brideshead: Die heiligen und profanen Erinnerungen des Captain Charles Ryder Waughs Hauptwerk, die Erinnerungen des Künstlers Charles Ryder sind ganz eindeutig eine Liebesgeschichte – nur zwischen wem? Zwischen Charles und der reizenden Julia? Zwischen Charles und dem Katholizismus? Gar zwischen Charles und dem schönen Sebastian? Finden Sie Ihre eigene Antwort und genießen Sie dabei einige Stunden: die herrlichsten, poetischsten und treffendsten Beschreibungen, die jemals über die britische Upperclass gemacht wurden.

Auf der schiefen Ebene  Waughs Erstling erzählt – wieder einmal – die Geschichte eines Menschen, der sich im Dschungel der Gesellschaft zu behaupten sucht und dabei – wieder einmal – kolossal scheitert. Als Roman nur etwas für die wirklichen Fans, die Freude daran haben, zu sehen, was da schon so alles von den späteren Werken angelegt war.

Eine Handvoll Staub Eine Reisegeschichte, die von den Erlebnissen des höchst zivilisierten Tony Last handelt, den es plötzlich unter die Ureinwohner des Amazonas verschlägt. Nur auf den ersten Blick scheint das Thema ungewöhnlich für Waugh, denn auch hier geht es vor allem um die Illusion der Zivilisation.

Ich hoffe, Sie vom Erfolg und der Freude an der Waugh-Kur überzeugen zu können. Probieren Sie es doch einfach aus! Oder haben Sie mit einem anderen Autor noch bessere Erfahrungen gemacht? Dann lassen Sie es mich in den Kommentaren wissen.

Ihre Joan Weng

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