Wiedergelesen: Johannes Mario Simmel – Der Mann, der die Mandelbäumchen malte

Hört man den Namen Johannes Mario Simmel, denkt man zunächst an dicke, mehrere hundert Seiten umfassende Wälzer. Dass er mit der kurzen Form begonnen hat, mit kurzen Erzählungen, ist wenigen noch im Bewusstsein. Eines der letzten Bücher, die er geschrieben hat, ist eine kaum mehr als hundert Seiten umfassende Novelle, 1998 erschienen und heute noch erhältlich.

Roger Royan, Heftchenschreiber und Drehbuchverbesserer, ist auf dem Weg nach Cannes. Dort wartet ein Produzent auf ihn. Royan soll ein verfahrenes Filmprojekt retten. Im Zug begegnet er Miss Collins, einer Dame in den Fünfzigern, die in Hochstimmung ist und ihm ihre Lebensgeschichte erzählt: die Geschichte einer Liebe, die jenseits ihrer Ehe stattgefunden hat. Nun ist ihr Ehegatte tot, und sie fährt zu ihrem Liebhaber an die Côte d’Azur. Royan und Collins trinken während der Zugfahrt zwei Flaschen Champagner und begeben sich dann in ihre Schlafwagenabteile. Am anderen Morgen wird nur noch Royan wach. Miss Collins ist einem Infarkt erlegen. Nach Annahme des Auftrags in Cannes macht sich Royan auf, den Liebhaber jener Frau kennenzulernen. Es ist der Maler, der nicht malen konnte – außer Mandelbäumchen. Die gelangen ihm gut. Doch was Royan erwartet, ist weder für ihn voraussehbar noch für die Leser.

Simmel war ein Meister der kurzen Form und der stillen Ironie. Er brauchte keine langen Sätze und Erklärungen, um Situationen zu zaubern.

Zitat:

Das sehr schöne Mädchen legte sich vor uns ins Gras und spreizte die Beine. Der Badeanzug war knapp. Das war keine echte Blondine.

Er liebte kurze Sätze, konnte aber auch lange, ohne dass diese umständlich wirkten. Sie lesen sich so geschmeidig weg wie seine kurzen.

Zitat:

Mr. Collins schlief drei, manchmal vier Stunden nach dem Essen und ging dann sein Spielchen machen, und Mondragon fuhr in seinem alten, verbeulten Wagen mit Mrs. Collins tatsächlich nach Vallauris und Antibes und zu anderen Sehenswürdigkeiten, immer aber bald nach Saint-Paul-de-Vence.

Simmel ist zu Unrecht als reiner Unterhaltungsschriftsteller verschrien. Seine frühen Erzählungen und Romane hatten bereits eine Qualität, mit der er sich nicht verstecken musste, und auch das meiste, was nach „Es muß nicht immer Kaviar sein“ kam, war weitaus besser als alles, was Konsalik und ähnliche Vielschreiber liefern konnten. Da er sich oft zeitbezogene Themen aussuchte, wird heute vieles nicht mehr so interessieren wie in den letzten drei Jahrzehnten des vergangenen Jahrhunderts. Ich bin aber sicher, dass auch heute keines seiner Bücher langweilt. Und die Romane von Simmel werden noch gelesen. Fast alle sind noch erhältlich, zumindest in einer Taschenbuchausgabe. Nur wenigen Autoren ist nach dem Tod eine solche Präsenz über die folgenden Jahrzehnte beschieden. In der Reihe „Wiedergelesen“ stellen wir Ihnen in loser Folge Romane von Johannes Mario Simmel vor, rezensiert von Mitgliedern der Blogredaktion und eingeladenen Gastrezensenten.

Ihr Horst-Dieter Radke

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