Zeitgeschichte in der Lyrik (2)

A. de Nora: Casablanca

Den Kerls aufs Auge den Daumen drücken,
Die Großen schröpfen, die Kleinen zwicken,
Und Alle so lange schikanieren,
bis schließlich ein paar die Geduld verlieren,
Und schlagen die „Herrn“ auf den Schädel jäh –
          Vive la paix!

Dann schleunigst Schiffe geschickt und Soldaten
Und losgepfeffert! Zweitausend Granaten!
Bis nichts mehr übrig ist von dem Neste
Und – was noch, gottseidank, das Beste! –
Nichts mehr von der alten Munition –
         Vive la civilisation!

Drei Stunden drauf ist die „Schlacht“ beendet.
Die Häuser geplündert, die Weiber geschändet.
Stumm unter den brennenden Trümmern liegen
Hunderte Fraun, Greise, Kinder und Ziegen –
Vorüber ist die große „Gefahr“ –
          Vive la gloire!

Dieses Gedicht erschien in der Zeitschrift „Jugend“ in der Nummer 24 des Jahres 1907. Es fand seinen Platz ganz unten auf der Seite, noch als letztes hineingequetscht. Die Redaktion schätzte es offensichtlich nicht als dringlich ein und verwehrte ihm einen optisch besseren und auffälligeren Platz. Es interessierte auch wenige in Deutschland, was  in Nordafrika passierte. Und passiert war etwas, was A. de Nora (das Pseudonym Anton Noders, eines damals durchaus geschätzten Schriftstellers) wütend machte. <!--more--><br>

Der Sultan von Marokko hatte die Erlaubnis gegeben, die Hafenanlagen in Casablanca zu erweitern. Die Arbeiter kamen dabei nahe an einen moslemischen Friedhof heran, und das brachte die Einwohner in Aufregung. Diese steigerte sich so, dass umliegende Volksgruppen die Arbeiter angriffen und neun davon – drei Franzosen, drei Spanier und drei Italiener – töteten. Der Aufstand griff auf die Stadt über, und so beschlossen die Franzosen, Casablanca zu besetzen und eine starke militärische Präsenz dort einzurichten. Sie fühlten sich ohnehin unterrepräsentiert in dieser Region, in der spanische Händler seit Mitte des 19. Jahrhunderts den größten Einfluss hatten. Diese hatten den Namen Casablanca (weißes Haus) der Stadt verliehen.

Vom Wasser aus beschossen die Franzosen die Stadt und zerstörten sie – mit Ausnahme des europäischen Viertels – nahezu völlig. Die Zahl der Toten ging in die Tausende. Im Juni 1908 waren mit hohem militärischem Aufgebot – das Korps zählte 15.000 Mann – die Stadt und den Bezirk darum herum befriedet. Die Europäer konnten wieder sicher dort leben. Einheimische gab es kaum noch.

Nun gab es einen wirtschaftlichen Aufschwung in der Stadt. Schnell löste Casablanca Tanger als wichtigste Hafenstadt Marokkos ab, und 1929 errichteten die Franzosen dort eine Börse. Ein Jahr nach der Premiere des berühmten Films „Casablanca“ mit Humphrey Bogart und Ingrid Bergmann trafen sich dort Roosevelt und Churchill zur sogenannten Casablanca-Konferenz, um die weiteren Geschicke Europas im Zweiten Weltkrieg zu besprechen. Heute ist die Stadt mit mehr als drei Millionen Einwohnern die größte Stadt Marokkos und das wirtschaftliche Zentrum des Landes. Die starke Orientierung und Verflechtung der Wirtschaft zu Frankreich existiert auch heute noch, obwohl das französische Protektorat 1956 endete.

Horst-Dieter Radke

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