Brille putzen und losschreiben

Um auf Ideen zu kommen, muss man die innere Brille putzen. Mehr braucht es nicht. Bei mir hat es allerdings ziemlich lange gedauert, bis mir das klar wurde und bis zu diesem Zeitpunkt musste ich meine Ideen mühsam konstruieren. Ich habe dazu eine beliebige Begegnung von Personen genommen und ein paar Parameter so verändert, dass die Situation unter Spannung kam, soweit, bis es leise klickte, wie Eiswürfel, die man in warmes Wasser wirft. Durch die Spannung kommt der Plot in Gang und die Geschichte nimmt ihren Lauf. Will man beispielsweise Spannung in die Beziehung zweier Figuren bekommen, braucht man sie dafür nur gegensätzlich genug anzulegen. Der Gegensatz sollte Bestandteil ihres Wesens sein, er muss tief genug reichen, damit es richtig zur Sache geht, wenn er sich entlädt Z.B. Träumer trifft Karrierefrau und die beiden verlieben sich. Als Katalysator bringen wir die beiden in eine Ausnahmesituation. So kann sich die Handlung allmählich entwickeln, die beiden verlieben sich, gehen eine Beziehung ein, leben eine gewisse Zeit glücklich miteinander, bis der Gegensatz wieder an die Oberfläche gelangt und es knallt.
Nach dieser Vorgehensweise habe ich ein gutes Dutzend Kurzgeschichten geschrieben, die gar nicht so schlecht angenommen wurden, eine hat sogar einen dritten Platz eines Wettbewerbes geholt. Komischerweise hat dieses Verfahren aber nie zur Entstehung eines Romans geführt, und das hat mich ein bisschen stutzig gemacht. Auch als Plot, Schauplätze und benötigte Hintergrundinformationen parat standen: Ich konnte einfach nicht weiterschreiben. Nach einiger Zeit war einfach immer der „Saft raus“, die Leidenschaft versiegt und der Roman hat nie das Licht der Welt erblickt.
Darum mache ich jetzt etwas anderes, das man am Ehesten als Brilleputzen bezeichnen könnte. Das Verfahren ist deutlich weniger anstrengend, eigentlich braucht man dafür überhaupt nichts zu tun. Außer eben die Brille zu putzen, damit man wieder klar sehen kann. Man muss nicht wie ein Schachspieler jeden Zug, den die Figuren machen sollen, im Voraus wissen. Denn genau das hat sich zwischen die Idee und das Scheiben geschoben und meinen Erzählfluss zum Versiegen gebracht. Wenn ich schon weiß, was die Figuren wann und in welcher Situation tun und sagen sollen, dann habe ich nichts mehr aufzuschreiben, es ist nämlich schon alles fertig. Stattdessen nehme ich mir jetzt nur noch den Kern und das Ende einer Geschichte vor. Wenn ich die Figuren gesehen habe, werden sie ausgiebig getagträumt, vor dem inneren Auge gedreht und gewendet, bis ich sie plastisch vor mir habe. Ich schaue mir auch ihre Vergangenheit an, gehe mit ihnen nochmal in die Schule und den Kindergarten. Ich kläre alle Fragen, die mir einfallen.
Habe ich sie mir lange genug einzeln vorgestellt, lasse ich die Figuren aufeinandertreffen. Auf jeden Fall muss ich sehen, wie sie sich in der entscheidenden Situation, dem Höhepunkt der Geschichte, verhalten. Wie sie in diese Krise geraten, weiß ich implizit, weil ich die Figuren kenne. Über den Rest mache ich mir keine Gedanken, der wird sich von selbst ergeben.

Das Einzige, was es dazu braucht, ist genügend Zeit. Zeit, in der der unzugängliche Teil meines Gehirns seine Arbeit verrichten kann. Er kann besser erzählen als ich. Meine Aufgabe ist es, die notwendigen Vorarbeiten zu leisten, recherchiertes Wissen so weit wie möglich in Form von Bildern zur Verfügung zu stellen. Wenn die Geschichte im Monat Juni in der Toskana spielen soll, dann werde ich mir so viel Wissen über das Klima, die Vegetation, den Geruch und das Aussehen des gesamten Umfeldes im Monat Juni beschaffen, bis ich damit völlig gesättigt bin. Dann folgen einige Tage Pause, die ich mit etwas komplett anderem als der Geschichte verbringe, gezieltem Dösen [link] beispielsweise. Nach ein paar Tagen Nicht-an-der-Geschichte-arbeiten rufe ich mir nochmals kurz (!) alles ins Bewusstsein, und dann geht es auch schon los. Einfach alles aufschreiben, die Geschichte liegt bereits fertig vor. Ich bin mit Figuren und Schauplatz vertraut, weiß, was mein Personal an- und umtreibt. Alles, was noch fehlt, werde ich automatisch hinzudichten.

Woher ich meine Ideen nehme, kann ich Ihnen also nicht sagen. Ich weiß nur, dass ich sie nicht nehme. Sie sind einfach da. Ich bin überzeugt: Wer glaubt, Ideen suchen zu müssen, der hat verlernt hinzuschauen. Die Welt ist mit Ideen überfüllt. Wenn Sie schreiben wollen, dann müssen Sie sich dazu erziehen, die Welt mit ihren eigenen Augen zu sehen. Sie dürfen alles erzählen, was Sie erzählen möchten, ohne Rücksichten. Ihre einzige Aufgabe ist es, Ihren ureigenen Blick freizulegen. Wie sehen Sie die Welt wirklich – wenn der innere Zensor schweigt? Falls Sie das bereits wissen, verfügen Sie über eine nie versiegende Quelle, auf die Sie jederzeit zugreifen können. Viel Spaß dabei!

Ihr Christoph Junghölter

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