Der Geschichte zweiter Teil
nacherzählt von Monika Detering
Am nächsten Morgen, als man ihm sein Todesurteil verkündete, reifte in ihm die Erkenntnis: Lieber ohne Zauber leben, als damit zu sterben. Er ersuchte den König um geheimes Gehör und offenbarte sein magisches Können. Der Herrscher hörte zwar skeptisch zu, doch Muck bat um eine Probe und bestand auf der lebensrettenden Zusicherung. Der König gab sein Wort.
Unbemerkt konnte er im Schlossgarten einige Goldstücke vergraben und forderte Muck auf, sie mit seinem Stäbchen zu finden. In wenigen Augenblicken schlug der Zauberstab dreimal gegen die Erde und wies so auf das Versteck hin.
Da dämmerte dem König, dass ihn sein Schatzmeister betrogen hatte. Zornig ließ er ihm eine seidene Schlinge schicken, damit er seinem Leben selbst ein Ende mache. Dem kleinen Muck aber verkündete er: „Dein Leben ist dir sicher, doch scheint mir, du hütetest nicht nur das Geheimnis des Stäbchens. Solltest du mir nicht verraten, wie du so flink dahinsaust, bleibst du auf ewig im Kerker.“
Die einsame Nacht in den kalten Mauern hatte Muck jegliche Lust an weiterem Dasein dort benommen. Zögernd gestand er, seine wahre Kraft liege allein in den Pantoffeln – das Geheimnis des dreimaligen Drehens auf dem Absatz aber schwieg er weiter.
Neugierig zog der König selbst die magischen Pantoffeln an und stürmte in den Palastgarten hinaus. Er wirbelte im Kreis, so rasch und ungestüm, dass er weder Halt noch Mäßigung kannte. Immer wieder wollte er innehalten, doch es gelang ihm nicht, bis er schließlich vor Erschöpfung zusammensank. Als der König seine Sinne wiederfand, wallte unbändige Wut in ihm auf. Er hatte dem kleinen Muck sein Wort gegeben, doch fühlte er sich übervorteilt. „Innerhalb von zwölf Stunden musst du mein Reich verlassen“, donnerte er. „Tust du es nicht, so lasse ich dich aufknüpfen.“ Pantoffeln und Stäbchen ließ er in die verschlossene Schatzkammer schaffen.
Ärmer denn je wanderte der kleine Muck hinaus an die frische Luft, die Schmach seiner eigenen Leichtsinnigkeit lastete schwer. Glücklicherweise war das Königreich klein, und schon nach acht Stunden erreichte er die Grenze, wenn auch das Gehen ihm ohne seine geliebten Pantoffeln qualvoll erschien.
Er verließ die Handelswege und begab sich in die Einsamkeit des Waldes. Menschen mied er ab jetzt. Bald stieß er auf eine Lichtung, wo ein Bach von schattigen Feigenbäumen umsäumt floss und weicher Rasen wuchs. Dort legte er sich nieder, fest entschlossen, keine Speise mehr zu sich zu nehmen und sein Leben ausklingen zu lassen. Traurige Gedanken wiegten ihn in den Schlaf. Erst als der knurrende Magen ihn quälte, erwachte er und erkannte: Ein Hungertod ist heimtückisch. Er richtete sich auf und suchte nach irgendetwas Essbarem, das ihm neue Kraft schenken könnte.
Am nächsten Morgen entdeckte der kleine Muck köstlich reife Feigen an dem Baum, unter dem er geruht hatte. Behände schwang er sich hinauf, pflückte sich eine Handvoll und ließ sich das saftige Fruchtfleisch wohlig schmecken. Dann stieg er herab und ging zum Bach, um seinen Durst zu stillen. Doch beim Blick ins Wasser erstarrte er vor Entsetzen: Zwei mächtige Ohren ragten seitlich von seinem Kopf, und eine dicke, lange Nase hing ihm ins Gesicht. Er tunkte die Finger ins kühle Nass und strich prüfend über die Ohren – sie reichten über eine halbe Elle hinaus!
„Eselsohren habe ich wohl verdient“, klagte er laut, „denn wie ein Esel trat ich mein Glück mit Füßen!“ Betrübt wanderte er weiter, suchte Halt in den Baumkronen und hatte bald wieder Hunger. Rasch kletterte er zurück zu den Feigen – denn an nichts anderem war Nahrung zu entdecken – und verzehrte eine zweite Portion. Mitten im Schlemmen kam ihm der Gedanke: Passen die absonderlichen Ohren wohl unter meinen großen Turban? Er tastete an seinem Schädel – und siehe da: Die Ohren waren verschwunden, ebenso die unförmige Nase! Triumphierend stürzte er zum Bach, bewunderte sein ursprüngliches Gesicht und erkannte die Wahrheit: Der erste Feigenbaum hatte ihn verunstaltet, die Früchte des zweiten Baumes hatten ihn geheilt.
Dankbar sammelte er so viele Feigen von beiden Bäumen, wie er tragen konnte, und machte sich auf den Rückweg ins Königreich. Im ersten Städtchen verkleidete er sich mit fremden Gewändern und schritt dann weiter zum Palast.
Es war gerade eine Jahreszeit, in der reife Früchte nur selten zu finden waren. Deshalb setzte sich der kleine Muck unterm Tor des Palastes nieder, denn er wusste aus früheren Tagen, dass der Küchenmeister dort gern ungewöhnliche Leckereien für die königliche Tafel einkaufte. Muck hatte kaum Platz genommen, als der Küchenmeister Ahuli über den Hof schritt und prüfend an den Körbchen der Händler vorbeiging. Endlich blieb sein Blick an Mucks Körbchen mit den kostbaren Feigen hängen. „Ah, ein seltener Genuss, der dem König gefallen wird“, sagte er. „Was verlangst du für den ganzen Korb?“
Der kleine Muck nannte einen bescheidenen Preis, und bald hatten sie sich geeinigt. Ahuli übergab seinem Sklaven den Korb und zog weiter. Muck aber schlich sich unbemerkt davon, aus Angst, man könnte ihn später als den Verkäufer dieser Früchte erkennen und bestrafen.
Am Abend bei Tisch war der König bester Laune. Er pries die Kochkunst seines Küchenmeisters und lobte seine Gewohnheit, stets nur das Seltenste zu beschaffen. Ahuli lächelte geheimnisvoll und ließ nur Andeutungen fallen wie: „Der Abend ist noch jung“ oder „Ende gut, alles gut“, wodurch die Prinzessinnen neugierig wurden. Als schließlich die schönen, saftigen Feigen aufgetragen wurden, entfuhr allen Anwesenden ein staunendes „Ah!“ „Wie reif, wie köstlich!“ rief der König. „Küchenmeister, du bist ein wahrer Meister und verdienst unsere besondere Gunst!“
Der König verteilte die Feigen: Jeder Prinz und jede Prinzessin erhielten zwei, die Hofdamen und die Wesire sowie Agas je eine. Die übrigen Früchte ließ er vor sich hinstellen und kostete sie mit größtem Vergnügen.
Als die Prinzessin Amarza plötzlich rief: „Aber, wie siehst du so wunderlich aus, Vater?“, herrschte Totenstille unter den Anwesenden. Der König starrte auf sein Spiegelbild, und ungeheure große Ohren hingen ihm herab, eine lange Nase reichte bis zu seinem Kinn. Auch alle Anwesenden betrachteten sich bestürzt und entdeckten, dass sie gleichermaßen von dieser seltsamen Verwandlung erfasst waren.
Ein entsetztes Raunen war zu hören und schnell wurden etliche Ärzte gerufen. Sie kamen im Dutzend, verabreichten Pillen, Salben und Mixturen, doch die Ohren und die Nase blieben. Selbst eine riskante Operation an einem der Prinzen zeigte keinen dauerhaften Erfolg, denn nach kurzer Zeit wuchsen die grotesken Merkmale erneut.
In seinem Versteck hatte der kleine Muck das Wehklagen des Hofes vernommen und wusste, dass der Augenblick für sein Eingreifen gekommen war. Mit dem Geld aus dem Feigenverkauf hatte er sich Kleider eines Gelehrten und einen Ziegenbart besorgt. Ein Säckchen voller Feigen unterm Arm, trat er als „fremder Arzt“ im Palast auf und bot seine Hilfe an.
Zunächst begegnete man ihm sehr skeptisch. Doch als er einem entstellten Prinzen eine Feige reichte und das Kind augenblicklich wieder sein ursprüngliches Gesicht erhielt, brachen alle Dämme. Hofdamen, Fürsten und Prinzessinnen flehten um Heilung, und der König versprach ihm jeden Wunsch aus seiner Schatzkammer. Der Monarch führte den vermeintlichen Heiler durch eine verborgene Tür in die Kammer voller Juwelen und Gold, ließ ihn vor den kostbaren Schätzen wählen. Doch kaum erblickte Muck seine eigenen Pantoffeln und sein Stäbchen am Boden, schlüpfte er hinein, riss den Ziegenbart herab und offenbarte sein wahres Gesicht. „Treuloser König“, rief er, „der du gute Dienste mit Undank lohnst, nimm die Verunstaltung, die du im Gesicht trägst, als Mahnung für deine Undankbarkeit!“ Mit einem mächtigen Schwung seines Stäbchens ließ er alle Auswüchse verschwinden, ließ ihm jedoch die großen Ohren als tägliche Erinnerung an den kleinen Muck zurück.
Noch ehe der König um Hilfe rufen konnte, hatte sich der kleine Muck davongemacht. Fortan lebte er zurückgezogen und wohlhabend, doch einsam, denn er verachtete die Menschen. Durch seine Erlebnisse war er weise geworden, und obwohl sein Äußeres nach wie vor ungewöhnlich wirkte, verdiente er mit der Zeit mehr Bewunderung und Respekt als albernen Spott.
Quelle: Wilhelm Hauff