Ich will mehr

Der Mensch sucht immer eine Steigerung, das beweisen der BigMac, der Audi RS6 und das Apollo-Programm. Hinter diesen drei verbirgt sich die allzu menschliche Sehnsucht nach dem Mehr. Dieser unstillbare Hunger macht auch vor uns nicht Halt und daher heißt unser neustes Projekt: DOPPELREZIS!

Sie haben richtig gelesen: Rezension doppelt. Jeweils zwei Blog-Autoren lesen das gleiche Buch und rezensieren es. Unabhängig voneinander. Mit streng geheimem Lektorat. Das hat so viel Spaß gemacht, dass wir daraus ab sofort eine lose Serie machen. Heute geht’s los mit „Der Rosenkavalier“. Viel Spaß!

 

Der Rosenkavalier oder der Toyboy ist eine Erfindung des 21sten Jahrhunderts

Wenn ich „Rosenkavalier“ höre, denke ich immer zu allererst an die herrliche Oper von Strauss und dann vielleicht noch an Hofmansthals gleichnamigen Roman. Aber auch Ossip Schubin, Erfolgsautorin des 19. Jahrhunderts, hat 1924 ein Werk diesen Titels verfasst… beinahe hätte ich gesagt verbrochen.

Die Handlung dieser Erzählung ist rasch zusammengefasst: ein junger mitteloser Student verliebt sich in die Stimme einer alternden Operndiva, die Frau selbst ist  über fünfzig und obwohl noch „Reste von Schönheit“ zu erkennen sind, bleibt sie für ihn stets die mütterliche Freundin. Sie hätte durchaus mehr als platonisches Interesse an ihm, versucht ihn mit Geschenken an sich zu binden, scheitert aber an der kolossalen Tugendhaftigkeit dieses Biedermanns und begeht zum Schluss Selbstmord.

Was hätte man aus diesem Stoff für einen Roman machen können!

Es ist doch alles da! Glühende Leidenschaft, Musik, eine alternde Diva, die noch einmal, ein letztes Mal als Frau begehrt werden möchte und sich dafür tragischerweise den Falschen aussucht: einen kleinen, trotz seiner Jugend schon vollkommen vertrockneten Streber nämlich, den mehr noch als das Alter seiner mütterlichen Freundin die Tatsache abschreckt, dass diese doch tatsächlich eine leidenschaftliche Frau ist, eine Frau mit Vergangenheit, mit Erfahrungen und Erlebnissen.

Aber was tut Ossip Schubin?

Ganz Kind des langen 19. Jahrhunderts, nimmt sie diesen miesen kleinen Tugendbold und stellt ihn als glühendes Beispiel, als Muster an Rechtschaffenheit hin, lässt ihn die ganze Geschichte erzählen, wobei ihn heftigste Reue plagt, nicht gleich erkannt zu haben, worauf die Beziehung zusteuert. Sogar von Ekel vor der begehrenden Diva ist die Rede.

Auch das wäre noch gegangen, hält doch Elizabeth von Arnim dem Junkeradel schon Jahre früher  in „Die Reisegesellschaft“ einen augenzwinkernden Spiegel vor, in dem sie den selbstgerechten Otto von Ottringel berichten lässt, durch seine eigene Stimme die Kleinheit und Arroganz seines Weltbildes bloßlegt. Oder man denke an Schnitzlers genialen „Leutnant Gustl“.

Doch Schubin meint das ganz offensichtlich ernst! Beim besten Willen findet hier der Leser keine Spuren einer ironischen Brechung und das macht das Buch für einen modernen Leser schlicht unerträglich. Hinzu kommen inhaltliche Längen, die Kellers Grünen Heinrich wie einen Thriller erscheinen lassen, da hilft dann auch die teilweise sehr elegante Sprache nicht mehr!

Wenn man das Buch denn liest, dann maximal als Zeitzeugnis und eventuell auch als Mahnmal. Als Mahnmal dafür, dass wir hier in Zentraleuropa sehr, sehr froh sein müssen, solche Zeiten der Prüderie und der weiblichen Unterdrückung überwunden zu haben. Und wenn mich das nächste Mal Heidi Klum mit ihrem Vitorio von irgendeiner Schlagzeile angrinst, dann werde ich nicht wie bisher denken: Oh Mann, muss das sein? Wir haben doch alle begriffen, wie superduper glücklich ihr seid.

Nein, ich werde danken, dafür, dass so eine Schlagzeile, so eine Beziehung heute möglich ist!

Joan Weng

 

Ossip Schubin – Der Rosenkavalier

 Um die Oper von Strauss und Hofmannsthal geht es in diesem Roman nur am Rande, allerdings um das Thema, das im Rosenkavalier bereits im ersten Akt aufscheint: Alte Frau und junger Geliebter. In diesem Roman ist es die alternde Sängerin Selvaggini, die sich eines jungen Studenten annimmt, der krank ist, ihn gesund pflegt und nach seiner Promotion auch weiter unterstützt. Nicht ganz uneigennützig, wie der Leser spürt. Das gerät am Ende zur Katastrophe, weil sich der »junge Mann« zwar ganz der Verehrung der Sängerin hingibt, nicht aber ihrer Liebe. Als ein junges Mädchen auftaucht, in das sich der »Held« verliebt, ist die Katastrophe unausweichlich.

Das riecht schon nach einer ordentlichen Portion Sentimentalität. Tatsächlich schmeckt der Text auch teilweise so, was bei mir bewirkt, dass ich mich ab und an über den »Helden« geärgert habe. Mein Gott – was soll das denn? Wenn sie doch ihre Reize hat, noch so schöne Hände und Beine, sie so toll singen kann und er sich von ihr aushalten lässt – warum steigt er dann nicht zu ihr ins Bett? Was ist schon dabei? Nun leben wir im 21. Jahrhundert, die Geschichte wurde 1924 geschrieben und spielt gegen Ende des 19. oder zu Beginn des 20. Jahrhunderts (es gibt schon Autos, der 1. Weltkrieg spielt noch keine Rolle – also ist die Erzählung irgendwo zwischen 1890 und 1910 anzusiedeln), da galten noch andere Ehr- und Moralbegriffe. Das weiß ich und kann deshalb meinen Ärger beim Lesen auch zurücknehmen, zumal die Autorin nicht in dieser Sentimentalität hängen bleibt, sondern immer wieder mal ein wenig Distanz sucht, die Situation beleuchtet und dabei manch schönen Satz und manch schöne kritische Anmerkung findet, etwa zur Situation alternder Frauen oder dass man den älteren Frauen kein eigenes Gefühls- und Sexualleben zugestand.

Die Erzählung ist in der damals so beliebten Form der indirekten Geschichte gefasst: Es gibt eine Rahmenhandlung, in der jemand auftritt, der dann seine Geschichte erzählt. Das bietet den Vorteil, dass Erzähler und Zuhörer reflektierend in die Kernerzählung eingreifen können. Diese Erzählhaltung ist heute in der Literatur nur noch selten zu finden, wird nur noch gelegentlich im Kino- oder Fernsehfilm genutzt, wenn die Stimme des Protagonisten in den Film einleitet und manchmal auch im weiteren Verlauf noch kommentiert. »Der Rosenkavalier« von Ossip Schubin (1854 – 1934) ist ein Musterbeispiel für diese Form. Trotz des schwermütigen, sich um Liebe, Verlangen und Verweigerung drehenden Themas ist der Roman interessant. Er endet nicht schwülstig wie bei Courths-Mahler oder Marlitt damit, dass Mauerblümchen den Prinzen bekommt. Die Geschichte geht jedoch nicht nur dramatisch aus. Einen Ausblick, eine Hoffnung für die geneigte Leserin und den wohlwollenden Leser lässt die Autorin durchaus offen. Und auch ich bin mit dem Helden (ein unglaubliches Weichei, das andauernd und für jeden Killefatz Nervenleiden und Heulerei bekommt) am Ende einigermaßen versöhnt, weil die Zuhörerin ihm ordentlich den Kopf gewaschen hat und er zumindest den Anschein erweckt, dass er sich das zu Herzen genommen hat.

Horst-Dieter Radke

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