An der Grenze zwischen Schöneberg und Kreuzberg liegt mein Berliner Lieblingsfriedhof, der Alter St. Matthäus Kirchhof. Meine australische Mitbewohnerin Lucie war neulich dort – der Friedhof ist nämlich ganz in der Nähe unserer Wohnung – und war fasziniert. Eigenartig, so etwas über einen Friedhof zu denken, sagte sie, aber dieser Friedhof ist lebendig. Ich wusste sofort, was sie meinte und freute mich dann mit ihr darüber, dass sie endlich den weltberühmten Brüdern Grimm einen Besuch abgestattet hatte. Schließlich hatte sie sich das schon lange vorgenommen. Weil ich ihr in nichts nachstehen will, beschloss ich, endlich selbst den lange geplanten und immer wieder verschobenen Besuch bei den Grimm-Brüdern nachzuholen.
Deshalb lasse ich diesmal alles andere, was diesen Friedhof besonders macht, links liegen: das Café am Eingang, die Rasenstücke an der Friedhofsmauer, die ein Mittelding zwischen anonymer und persönlicher Bestattung sind: keine personalisierten Gräber, aber an der Friedhofsmauer hängen Tafeln mit den Namen der hier Beerdigten. Ich bleibe heute nicht an dem Gemeinschaftsgrab der AIDS-Verstorbenen stehen, denen ein altes, leicht protziges Grabmal umgewidmet wurde. Nur am Gräberfeld der Ordensschwestern halte ich für einen kurzen Moment inne und sinniere darüber, dass diese Frauen sich einmal im Leben für eine Uniform entschieden haben und frage mich, ob sie damals geahnt haben, dass diese Entscheidung bis in den Tod gültig sein würde, denn vor mir liegen dreißig Grabsteine, die sich nur in Namen und Daten unterscheiden.
Anschließend nicke ich den mir vom Friedhof der Sternenkinder zuwinkenden Wimpeln kurz zurück, für mehr habe ich heute keine Zeit.
Denn ich habe sie gefunden: Die Grabsteine der Brüder Grimm. In Gedanken füge ich die Unterzeile hizu: Märchensammler, Sprachwissenschaftler, „Gründungsväter“ der Germanistik. An die Säulen gelehnt finden sich Zeugnisse von Schulbesuchen; von Kindern, die heute noch mit Grimms Märchen aufwachsen und dafür dankbar sind. Ich bleibe einige Meter entfernt von den Grabsteinen stehen und fühle mich distanziert, was nur bedingt mit der Anzahl der Meter zu tun hat. Um ganz ehrlich zu sein: Ich habe spät – zu spät will mir scheinen – mit Märchen angefangen. Ich beneide Freunde, die auch als Erwachsene noch lesend in Märchenwelten eintauchen können, denn mir ist das nicht einmal als Kind gelungen. Lange habe ich mich gefragt, warum das so ist, bis ich herausfand, dass meine Mutter mir als kleines Kind kaum Märchen vorgelesen hat. Sie fand sie zu grausam. Deshalb habe ich Märchen erst später kennengelernt, als ich selbst lesen konnte. Aber mir scheint, es war zu spät für mich: Ich habe die frühen Märchenlektionen nicht gelernt. Zu denen auch die gehört, dass am Ende alles gut wird, egal wie grausam sich das Leben zwischendurch zeigt. Jedenfalls glaube ich, dass das eine der Botschaften aus Grimms Hausmärchen ist.
Als Zwölfjährige habe ich einmal einen russischen Märchenfilm nicht zu Ende sehen können, weil meine Angst um den Helden zu groß war. Er musste – wie das in Märchen üblich ist – drei Aufgaben lösen und wurde dabei ständig von Baba Yaga gestört und bedroht. Ich weiß noch, dass ich meinen Eltern am Abend kleinlaut gestand, dass ich den Film nicht bis zum Ende sehen konnte und schob aber hinterher: „Ich glaube, er hat es doch noch geschafft.“ Ich bin davon überzeugt, ich wäre schon damals furchtloser gewesen, wenn ich rechtzeitig Märchen gehört hätte.
Womöglich deshalb stehe ich etwas ratlos und mit dem Gefühl etwas verpasst zu haben, vor den Gräbern der Grimms. Ich memoriere Märchen; aber ich tue das nur mit dem Kopf, mein Herz haben die Märchen nie erreicht.
Dennoch nicke ich den Brüdern vorsichtig ehrerbietig zu und mache mich auf den Weg nach Hause. Zurück wähle ich einen anderen Weg und komme bei Rio Reiser vorbei, der vor wenigen Jahren hierher umgebettet wurde. Auch er steht für mich für etwas, was ich verpasst habe. Aus diversen Gründen. Doch ich ein Versäumnis am Tag ist mir genug und ich schleiche verstohlen an seinem Grab vorbei.
Einen Moment lang habe eine Ahnung davon, warum manche Menschen Friedhöfe nicht mögen: sie erinnern uns an unsere Versäumnisse.
Saumselige Grüße,
Ein sehr schöner persönlicher Beitrag, der den Grimms im Grab ein Lächeln abringen könnte, wenn das möglich wäre. Der Artikel zeigt aber auch, das Märchen heute immer noch nicht als das verstanden werden, was sie sind: keinesfalls nur Kindergeschichten. Und ebenfalls nicht abonniert auf Happy End. Darauf spekulierten übrigens auch die Grimms nicht, als sie im Jahr 1837 zusammen mit 5 anderen Professoren (den Göttinger 7) gegen die Aufhebung der Verfassung im Königreich Hannover protestierten, daraufhin entlassen und Jakob sogar des Landes verwiesen wurde. Die Brüder Grimm (es gab übrigens mehr als zwei) waren mehr als nur Märchenonkel, als die sie von vielen immer noch gesehen werden.
Danke, HD, sowohl für das Kompliment als auch für die ergänzenden Infos.