Graves und die Tränen des Pharao (Kapitel 3)

Cover 1

 

„Oh Graves! Es ist so furchtbar.“

„Ich weiß, Süße. Aber jetzt bin ich ja da.“

Er streichelte sanft ihren Hinterkopf, sorgfältig darauf achtend, nicht mit dem bereits trocknenden Blut in Kontakt zu kommen. Die letzte, die er hier erwartet hatte, war Jo-Anna. Sicher, sie kannte die Warringtons, war sogar für einige Zeit mit diesem Schmierlappen Jacob verlobt gewesen, einem Freund Johnny Warringtons. Hatte der miese Süchtling etwas mit der Sache zu tun? Steckten die beiden – oder besser gesagt, die drei – am Ende unter einer Decke? Die Sache gefiel Graves immer weniger.

„Sag mal Jo, was tust du eigentlich hier?“

„Oh Graves, es ist kompliziert.“

„Hat das was mit dem Schmier … Jacob zu tun?“

Sie legte ihren Kopf an seine Schulter und begann leise zu schluchzen. In diesem Zustand war sie nicht zu gebrauchen. Graves bugsierte sie auf einen der Besucherstühle und ging nochmals um den Schreibtisch herum, schob den toten Lord ein Stück vor und griff nach der Dickens Gesamtausgabe. Bingo. Sie ließ sich nach vorne klappen und gab den Blick auf eine bauchige Flasche und Gläser frei. Natürlich Macallen. Sei’s drum. Ein Doppelter brachte Jo-Anna wieder halbwegs in die Spur, und sie leierte eine schmalztriefende Romanze herunter, in der sie selbst, der Schmierlappen und Lady Warrington die Hauptrollen spielten. Sie fing noch ein paarmal an zu heulen, woraufhin ihr Graves jedesmal einen guten Schuss Scotch nachschenkte. Als sie zu lallen begann, hatte er längst genug gehört. Jo-Anna war so dumm gewesen, die Lady zu Hause aufzusuchen, um sie zur Rede zu stellen, „ihren“ Jacob zurückzuverlangen. Dabei lag die Trennung bereits zwei Jahre zurück. Die Lady war davon natürlich nicht begeistert, hatte sie beschimpft, als Schlampe tituliert und versucht, sie rauszuschmeißen. Es kam zu einem Handgemenge, das der Schlag auf Jo-Annas Hinterkopf unversehens beendete. Sie hatte den Angreifer nicht identifizieren können. Doch Graves war überzeugt, dass dieser sich im Haus bestens auskannte, denn er hatte sich unbemerkt anschleichen können. Graves schmunzelte bei dem Gedanken daran, wie die beiden Frauen miteinander gerungen hatten, sich ineinander verbissen auf dem Boden wälzten, Wildkatzen, die mit scharfen Krallen um sich schlugen, dem Gegner lange Striemen in den Rücken ritzten, keuchend und schwitzend miteinander rangen, bis…

„Graves?“

„Hm?“

„Bring mich ins Bett“, lallte sie.

„Heute nicht, Süße, ich hab noch was vor.“

Er biss sich auf die Zunge. So verlockend das Angebot auch klang, seine Arbeit war noch lange nicht erledigt. Außerdem war Jo-Anna betrunken und gehörte dringend unter die Dusche. Alles zu seiner Zeit. Er fand die Adresse von Johnny Warrington auf einem Briefumschlag im Papierkorb, verfrachtete Jo-Anna in ein Taxi, dass sie in ihr Zweizimmer-Apartement an der Lexington bringen sollte und lief selbst zu Fuß die drei Blocks zum Apartment des Juniors. Das Vermögen der Warringtons wurde auf mehrere Millionen Dollar geschätzt, von denen die Diamantensammlung nur einen kleinen Teil ausmachte. Lord Warrington hielt Anteile mehrerer profitabler Firmen im In- und Ausland, nannte ganze Wohnblocks sein eigen. Umso erstaunter war Graves, als er am Mietshaus an der Bayside Road eintraf. Von der ehemals grünen Fassade bröckelte an mehreren Stellen die Farbe ab, stellenweise war der uralte, trockene Verputz beschädigt und Backstein sichtbar. Sicher waren die Wohnungen feucht und kalt. Neben der Eingangstür schauten lose Drähte statt eines Klingelknopfes aus der Wand, darunter eingetrocknete Pissflecken. Graves schob die unverschlossene Tür mit einem Quietschen auf. Im Flur stank es nach Abfall und nasser Wäsche. Anscheinend nisteten sich die Penner der Umgebung nachts hier ein, benutzten das Haus als Schlafzimmer und Klo. Graves hielt sich die Nase zu, musste an die polierten Marmorfliesen im Haus der Warringtons denken, die dicken Teppiche und schweren Eichenmöbel überall im Haus, als er zu Johnny Warringtons Wohnung im zweiten Stock hinaufstieg. Die Wohnungstür war genauso heruntergekommen wie der Rest des Hauses. Durch den Spalt zwischen Tür und Zarge konnte man problemlos den kleinen Finger hineinschieben. In der Wohnung brannte Licht und es waren laute Männerstimmen zu hören.

„Ich besorge dein Geld! Ich besorg’s ja!“

Graves legte eine Hand auf den Revolver und trat näher. Ein Schrei. Etwas fiel zu Boden.

„Das will ich auch hoffen, du Muttersöhnchen!“ Graves kannte die Stimme, konnte aber kein Gesicht zuordnen.

Das Klatschen einer Ohrfeige war zu hören.

„Morgen hast du dein Geld, morgen hast du’s!“

„Jetzt hast du die Hosen gestrichen voll, was?“

„Nicht mehr schlagen. Bitte!“

„Morgen, Johnny. Sonst bist du drann.“

Die Stimme lachte, dann näherten sich Schritte der Wohnungstür. Hastig lief Graves die Treppe zum nächsten Stock hinauf, vermied dabei geschickt jedes Geräusch, drückte sich um die Ecke, schob den Kopf ein Stück vor, gerade rechtzeitig, um den Mann zu sehen, der Johnny Warringtons Wohnung verließ. Jacob. Er rückte sich den Binder zurecht, überprüfte seine Frisur in einem kleinen Handspiegel und stieg raschen Schrittes die Treppe hinab. Dieser kleine Nichtsnutz hatte seine stinkenden Drecksfinger also auch im Spiel. Nicht nur, dass er Jo-Anna um den Finger gewickelt hatte, um sie kurz vor der Hochzeit wie eine heiße Kartoffel fallen zu lassen, sie gegen irgendein Flittchen einzutauschen. Nein, er hatte auch den jungen Warrington in der Hand, presste ihn aus wie eine Zitrone, um seine miesen Wettgeschäfte am Laufen zu halten. Graves hatte nicht übel Lust, diesem Dandy eins überzubraten und zuzusehen, wie er die Treppe hinuntersegelte. Aber dafür war später noch Zeit. Erstmal musste er das Puzzle vollständig zusammenfügen. Er musste sich seiner Sache sicher sein. Welche Rolle spielte Warrington Junior in dieser ganzen Komödie wirklich? War er das fehlgeleitete Opfer seines kaltherzigen, geizigen Vaters? Hatte er ihn umgebracht, um an dessen Geld zu gelangen? Den Tresor aufgebrochen und die Tränen des Pharaos gestohlen? Es gab nur einen Weg, das herauszufinden: Er musste an ihm dranbleiben. Johnny musste die Steine zu Geld machen. Und zwar heute noch. Morgen würden die ersten Finger brechen. Graves sah sich bereits sein restliches Honorar einstreichen. Er würde Jo-Anna bezahlen – inklusive eines ordentlichen Vorschusses – würde sie in Moe’s Cuisine ausführen, im City Imperial eine Suite nehmen, genau wie früher. Früher, als diese Stadt noch nicht bis zum unrasierten Hals im Dreck versank, der allgegenwärtige Gestank von Exkrementen noch dem lauwarmen Furz eines rotwangigen Babys glich. Graves wischte den Gedanken beiseite, als sich die Wohnungstür erneut öffnete und ein überaus nervöser Johnny Warrington in den Hausflur trat. Alles zu seiner Zeit. Das hatte seine Mutter immer gesagt, Gott hab sie selig. Und Gott hab auch dich selig, mein kleiner, dummer Johnny. Na, was hast du da in der Aktentasche? Ein paar Diamanten so groß wie meine Eier, stimmt’s?

Kaum auf der Straße, verhielt sich Johnny wie ein Profi, der Verfolger abschüttelt. Er marschierte zunächst zielstrebig einige Blocks in Richtung Süden, wobei er mehrere Male unversehens abbog, seine Schritte beschleunigte, wieder unvermittelt stehenblieb und sich einer Schaufensterscheibe zuwandte. Dabei sah er sich unauffällig nach Verfolgern um. Graves hatte seine liebe Mühe, dem wieselflinken Johnny auf den Fersen zu bleiben ohne entdeckt zu werden oder allzu viel Aufsehen zu erregen. Am Eve’s Cross musste er zuschauen, wie der Verdächtige urplötzlich auf eine anfahrende Straßenbahn sprang, und inmitten der Fahrgäste verschwand. Er wäre entwischt, wenn nicht Graves ein herannahendes Taxi mit einem beherzten Sprung auf die Straße zum Halten gezwungen hätte. Er wedelte mit einer 50-Pfundnote und stieg ein. Graves ließ das Taxi der Straßembahn bis zur Endstelle folgen, wo sich Warrington Junior erneut aufmerksam umsah und in ein dort wartendes Taxi stieg. Es nahm den direkten Weg zurück in die Innenstadt. Nach einer guten Viertelstunde hielt der Wagen zu Graves Verwunderung an der Lexington, nur wenige Gehminuten von der Detektei entfernt. Warrington wartete bis das Taxi außer Sichtweite war und ging dann zielstrebig auf das Haus mit der Nummer 45 zu, das Haus in dem sich Jo-Annas Wohnung befand

Das 3 Kapitel wurde von Christoph Junghölter geschrieben.

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