Schreibrituale oder die Schreibraumwohnung

Ich habe keine Schreibrituale. Dachte ich. Nach dem zweiten, genauen Hinschauen muss ich jedoch feststellen, dass das Schreiben selbst bereits eine Art Ritual geworden ist. Ich kenne zwei Arten zu schreiben. Die erste findet täglich statt, und zwar mit Hilfe eines Schneider Tops 505 F, schwarz. Dieser recht weit verbreitete Kugelschreiber ist mein ausgemachter Lieblingsstift, den ich vor einigen Jahren für mich entdeckt und dann sofort in großer Stückzahl geordert habe. Ich kann jetzt ohne weitere Nachbestellungen bequem bis zur Rente durchschreiben. Eine sehr beruhigende Vorstellung. Ich beschreibe karierte Collegeblöcke – DIN-A4. Im Laufe der letzten zwei, drei Jahre hat sich ein ansehnlicher Stapel angesammelt. Die Blöcke füllen Ideen, Stilübungen, Gedankenschnipsel und Notizen zu den Romanen, die ich lese. Auf ausnahmslos jede Seite kommt oben rechts das aktuelle Datum. Ich will auch in zwanzig Jahren noch nachvollziehen können, wie, wann und was ich gelesen, gedacht und geschrieben habe. Auch das beruhigt: Die Illusion, dass im Grunde nichts verloren geht und jederzeit problemlos wiedergefunden werden kann.

Die zweite Art des Schreibens findet an meinem Laptop statt. Erstens ist das schneller. Zweitens ist es eine unschätzbare Erleichterung, in längeren Texten nach Lust und Laune herumspringen zu können, alles nach Belieben suchen, löschen und neu schreiben, den zehnten Entwurf wie den ersten behandeln zu können. Alles, was für Publikum bestimmt ist, schreibe ich am Computer. Und noch wichtiger: Ich verlasse vorher die Wohnung. Mein Arbeitszimmer befindet sich in einer Zweiraumwohnung am anderen Ende des Flurs. Dieses Zimmer benutze ich in meinem Angestelltenleben als eine Mischung aus Werkstatt und Lagerraum. Und genau so sieht es auch aus. Hier wird nicht aufgeräumt. Alles liegt bereits so, dass ich es schnell – nein eigentlich: sofort – finde. Alles Wichtige wird in Griffweite abgelegt. Für weniger Wichtiges muss ich aufstehen. Unwichtiges befindet sich in den zahlreichen schwarzen Pappkartons, die sich an den Wänden stapeln. Außerdem gibt es sehr viele, sehr große, sehr überfüllte Ablageflächen, vollgestellt mit Dingen, die aus irgendeinem Grund interessant sind: Kitsch aus bereisten Ländern, verknickte Poster, alte Zeitschriften, Stadtpläne, Kinderspielzeug. Ein schlecht geführter Flohmarktstand: Unübersichtlich und unansehnlich. Aber unwiderstehlich.

Der Raum ist nicht renoviert und ein kleiner Radiator die einzige Wärmequelle. Im Winter ist es kalt, im Frühling und im Sommer schaue ich in grüne Baumwipfel. Ich liebe den Ahornbaum vor meinem Fenster. (Kann man Bäume adoptieren?).

Die Zimmerdecke ist mit Holzdielen verkleidet, an einigen Stellen blickt man auf gelbes Isoliermaterial, das aussieht wie Schaumstoff. Der Vormieter hatte ein enges Verhältnis zu seiner Bohrmaschine. Das zeigen auch die ehemals glatten Wände – sie erinnern an einen Mettigel ohne Salzstangen. Ich kann sehen, wo seine Garderobe hing.

Warum denkt in Deutschland eigentlich jeder, dass er Laminat verlegen kann?

Die Wohnung in der wir leben, ist hingegen sorgfältig eingerichtet. Hier wird penibel aufgeräumt. Es herrschen Ordnung und Übersicht. Es ist nicht egal, wenn das rote Kissen auf der rosa Decke liegt. Teppiche sind parallel zu den sie umgebenden Möbelstücken ausgerichtet. Stühle werden an den Tisch geschoben. Und genau so muss das auch sein. Japanische Zen-Gärten faszinieren mich. Das war schon immer so. Ein sauberer kleiner Kosmos. Klare Linien. Kein Zuviel und kein Zuwenig. Zwei bis drei ausgewählte Steine, umgeben von einer vollkommen gleichmäßig geharkten Sandfläche. Irgendwo ein gepflegter Baum, maximal Brusthöhe. Genau das braucht der Mensch: Eine Insel der Ruhe. Und eine Schreibraumwohnung.

Ihr Christoph Junghölter

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