Das besondere Buch: Es gibt sie!

Im Sommer 2003 reiste ich aus der lärmenden Metropole Nanjing nach Dali, – eine winzige chinesische Stadt, vier Autostunden östlich der burmesischen Grenze. Es war mein drittes Auslandssemester in China, und wie viele andere nutzte ich die Ferien, um dem allgegenwärtigen Dreck, der drückenden, schwülen Hitze zu entkommen und abgelegene Landesteile zu bereisen.

Meine Herberge verfügte über eine aus Spenden bestehende Leihbibliothek. In einem schlichten Holzregal standen etwa 100 stockfleckige Taschenbücher unterschiedlicher Herkunft und Sprache. Der einzige deutsche Titel war ein blaues, stark verschlissenes Taschenbuch: „Stiller“ von Max Frisch. Neugierig fing ich an zu lesen. „Ich bin nicht Stiller“, stand da. Das sagte Stiller zu einem Schweizer Polizisten und zu sich selbst. Und zu mir.

Ein erfolgreicher, angesehener Künstler will aus seinem Leben aussteigen, seine Identität abstreifen, wie eine verdreckte Hose. Aber wozu das Ganze? Der Roman nutzt Stillers Vergangenheit und zeigt dem Leser, wie wir uns selbst erfinden. Jeden Tag auf’s Neue. Wie Mitmenschen uns erfinden, indem sie sich ein Bild von uns machen. Wie falsch diese Bilder sind, weil sie unbeweglich sind. Und wie schwierig es ist, aus diesem Bild auszubrechen, sich das Etikett von der Stirn zu reißen, das wir selbst und die anderen uns aufkleben.

Lebenslügen werden entlarvt. Solche wie Stillers kurze Episode als Soldat im spanischen Bürgerkrieg. Er ist zu feige, zwei Faschisten zu erschießen. Zurück in der Heimat wird er als Held gefeiert, dem das Menschliche wichtiger sei als die bloße Ideologie. Und plötzlich wird der erste Satz wahr.

Er ist weder der Stiller, für den er selbst sich hält, noch der Stiller, für den die anderen ihn halten. Max Frisch zeigt die Relativität von Selbst- und Fremdbildern. Ich hatte mich seit über einem Jahr in einer völlig fremden Umgebung bewegt, vielleicht fühlte ich mich deshalb von diesen Gedanken so tief berührt. Mir war, als hätte Frisch in meinen Kopf geschaut und meine Gedanken mit mir geteilt, sie bis zum Ende weitergedacht. In China hatte ich mir ein Verhalten antrainiert, das zu Hause nicht opportun gewesen wäre. Ich ruderte mit Ellenbogeneinsatz durch Trauben wartender Menschen. Ich schleimte, weil es Teil der Höflichkeitskultur ist. Ich log, um nicht als arrogant zu gelten oder um mir Amtspersonen vom Leib zu halten. Und ich wunderte mich nicht mehr, dass mir all dies so leicht von der Hand ging.

Ich las und las, stopfte alles in mich hinein, wie ein Verhungernder ein saftiges Stück Fleisch. Trotzdem hatte ich bis zum Abend nur die Hälfte geschafft und wusste nicht, was ich tun sollte, denn ich besaß bereits eine Fahrkarte für den Überlandbus zur „Schwarzer-Drachen-Schlucht“ am kommenden Morgen. Dort wollte ich übernachten und am nächsten Tag weiterreisen. Weder wollte ich das Buch stehlen, noch meine Fahrkarte einfach so verfallen lassen. Also nahm ich ohne Buch den Bus.

Die Schlucht war gigantisch. Ich kletterte stundenlang im Fels herum, fotografierte das Sonnenlicht durch Wände aus feiner Gischt und aß von den Walnüssen, die überall wuchsen. Aber meine Gedanken wanderten immer wieder zu dem ominösen dunkelblauen Taschenbuch und dessen Inhalt. Es ließ mich einfach nicht mehr los. Um es kurz zu machen: Ich warf meine Reiseplanung über den Haufen, stieg noch am selben Abend in den Nachtbus, lief ohne Umwege zur Herberge und belegte dasselbe Bett wie am Tag davor. Ich las, aß und schlief, bis das Buch zu meinem Bedauern zu Ende war.

Es gibt sie. Diese Bücher, die einen nicht mehr loslassen, bis auch die letzte Seite umgeblättert ist. Bücher wie beste Freunde, geschrieben von Seelenverwandten. Man muss Glück haben, und ihnen zum richtigen Zeitpunkt begegnen.

Ihr Christoph Junghölter

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3 Gedanken zu „Das besondere Buch: Es gibt sie!“

  1. Wunderbar geschrieben, ein schöner Blogeintrag. Morgen gehe ich erst einmal in die Stadtbücherei und hole mir Max Frisch, Stiller.
    Ich fahre nicht nach China, aber Usedom ist auch gut, um neue Erkenntnisse zu sammeln. Frisch wird es sein an der Küste, Frisch, also der Max, wird sicher auch dabei sein.
    Amos

  2. Danke, Christoph, für diesen wundervollen Beitrag. Selten las ich eine so eindringliche, sehr persönliche, liebevolle Besprechung eines großen Romans. Und wieder leuchtet einmal auf, was ein gutes Buch zur passenden Zeit bei uns bewirkt: pures Glück. Nichts salbt meine Schreiberseele mehr als diese Erkenntnis.

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