4. Advent: Eine Weihnachtsgeschichte

Richtig isoliert

von Sophie Kamann

Die Morgenluft trug abgestandenen Weihnachtsduft über die Straße, an deren Ende gestern Abend noch Glühweinverkäufer und sogenannte Grillmeister ihr Unwesen getrieben hatten. Johann kannte die Art, mit der diese zwielichtigen Standbesitzer vor allem weibliche Passanten herbeilocken wollten. Ihr Humor war so dünn wie das Zeug, das manche von ihnen in widerliche Einweg-Thermobecher füllten.

Johann bewohnte drei Zimmer auf der anderen Straßenseite. Er war Student für Nachhaltiges Management und inspizierte von seinem Ausguck genau, welche Personengruppen welche Art von Abfall in die großen, als Schneemänner getarnten Mülleimer warfen. Und auch, wer sich gar nicht erst die Mühe machte. Die Thermobecher waren erst der Anfang. Eines Tages, glaubte Johann, würde jeder Weihnachtsmarktbesucher seinen Hausmüll zwischen den Buden deponieren. Der Pro-Kopf-Konsum von Glühwein nahm nach seinen Berechnungen stetig zu, und der Markt erinnerte ihn immer mehr an eine hübsch dekorierte Müllhalde. Die Statistiken hatten den Dozenten aber stets kaltgelassen, vermutlich fühlte sich dieser ertappt. Johann wusste, dass er selbst genial war – aber er musste den Leuten Zeit geben, sich an seine Überlegenheit zu gewöhnen.

Er träumte davon, als Umweltminister alle Berliner Weihnachtsmärkte zu verbieten. Und wenn er schon einmal dabei war, würde er eine CO2-Steuer auf Adventskränze verhängen. Johann war es unverständlich, wie jeder dritte Einwohner an vier aufeinanderfolgenden Sonntagen – an denen die Schadstoffbelastung durch Kamine ohnehin einen Höchstwert erreichte – insgesamt zehnmal eine Kerze anzünden konnte. Neben den Wachs-Emissionen während des Brennvorganges bedeutete dies anschließend zehnmaliges Auspusten und eine giftig stinkende Rauchfahne. Nicht zu vergessen das Tannengrün, für das so vielen Nadelbäumen ihre Fotosynthese betreibenden Äste gestohlen wurden.

Johann war bei diesem Gedanken jedes Mal begeistert – dass an solche Maßnahmen noch niemand gedacht hatte! Er liebte sein geniales Selbst, das vor allem in der Weihnachtszeit so anmutig analytisch und absolut besonders daherkam. Jemanden wie sich hatte er noch nie kennengelernt.

Jeden Sonntag klapperte er mit dem Fahrrad die verschiedenen Kirchengemeinden ab und protestierte still gegen die Wärmeverschwendung der Suppenküchen, die heiße Getränke und Mahlzeiten aus großen Behältern in die Atmosphäre dampfen ließen. Auf Recycling-Pappe hatte er geschrieben: „Fangt an zu isolieren, die Welt wird nicht erfrieren!“. Diesen Slogan reckte er bei jedem Halt einige Minuten in die Höhe. Die verwunderten, beinahe zornigen Blicke der Gemeindemitglieder erfüllten ihn mit Stolz und der Gewissheit, diesen unerhörten Leuten einen gehörigen Schritt voraus zu sein. Diese Menschen, die oft eine mehrere hundert Meter lange Schlange vor der Essensausgabe bildeten, hatten sich nur nicht genug angestrengt. Sonst hätten sie sich schließlich selbst etwas auf energiesparenden Induktionsherden kochen können. Er hörte überhaupt häufig die Ausrede, dass Umweltschutz eine Frage des Geldes sei.

Johann dachte zurück an all die letzten Weihnachtstage; die besinnliche Zeit, zu der er beobachtet, Statistiken geführt, Pläne aufgestellt und ausgeführt hatte. Unter seiner emissionsfrei hergestellten Biobaumwoll-Decke konnte es um den sündigen Heiligabend herum richtig gemütlich werden. Er betrachtete sein Spiegelbild in der Fensterscheibe. Er brauchte keine Welt da draußen, die nicht verstand, dass sie ihn brauchte.

Johann vernahm Schritte draußen auf dem Flur. Er erkannte Nina schon am Gang. Sobald sie ihre Wohnung verließ, friemelte sie Kopfhörer aus ihrer Jackentasche und lief in einem immer gleichen Rhythmus. Johann sah sie nur, wenn sie unten die Straße überquerte. Sie hatte ihn noch nie angesehen, vermutlich wusste sie nicht einmal von seiner Existenz. Johann verließ seine Wohnung erst in Richtung Uni, wenn er sicher war, dass Nina ihm nicht begegnen konnte. Ihm war es oft, als würde die Morgenluft etwas von ihrer Schwere verlieren, wenn Ninas leichte Schritte vorbeiflogen. Dennoch gab sich Johann Mühe, mehr an sein eigenes Leben zu denken. Den Müll zu trennen. Adventsbräuche zu vermeiden. Strom zu sparen. Keine Wärme zu verschwenden, nicht einmal in seinem Inneren.

Ob Nina heute wohl die gleiche Strecke laufen würde wie immer? Johann setzte sich auf, schob sich aus dem Bett, öffnete das Balkonfenster und stieg in die Abgase hinaus. Gerade noch rechtzeitig, denn sie war schon fast auf der anderen Straßenseite angelangt und würde in wenigen Sekunden zwischen den Häuserreihen verschwinden. Er fand es großartig, dass sie offenbar kein Auto besaß. Dennoch kränkte ihn die Art, wie sie achtlos über die leeren Einweg-Thermobecher stieg. Natürlich. Sie verstand es nicht. Das konnte niemand, außer ihm.

Den Rest des Tages verbrachte Johann in der Uni, stritt sich mit seinem Dozenten darüber, wie viele Lichterketten je hunderttausend Einwohnern erlaubt sein sollten, und beobachte das Wegwerfverhalten seiner Kommilitonen auf dem Campus. Er stellte Vergleiche mit den Weihnachtsmarktbesuchern an und notierte Vermutungen, wen er dort am kommenden Abend beobachten könnte.

Zum Einbruch der Dunkelheit saß er gut vorbereitet auf dem Balkon und starrte auf den emsigen Betrieb der beleuchteten Müllhalde. Die aufdringlichen Standverkäufer brüllten wie immer quer über den Platz, lachten über ihre eigenen Witze am meisten und ließen keine Frau ungestraft davonkommen. Da waren Tom und Jaqueline aus seinem Studiengang, die sich mit Plastikbesteck über Bratwürste hermachten. Ein Teenager warf sein Lebkuchenherz in eine Pfütze aus Apfelmus. Wahrscheinlich nicht einmal bio. Johann schauderte es.

Plötzlich vernahm er das Geräusch einer sich öffnenden Tür, und Ninas vertrauter Rhythmus hallte im Flur wider. Johann wartete, bis sie an ihm vorbei das Treppenhaus erreichen würde. Doch das Geräusch wurde zu seinem Entsetzen nicht leiser, sondern brach nach dem vierzehnten Schritt ab. Johann wartete. Nichts. Vierzehn Schritte … Johann rechnete. Sie wohnte vier Türen neben ihm, jede Tür war zwei Meter von der nächsten entfernt. Wenn Nina eine Schrittlänge von 0,6 Metern hatte, befand sie sich also … Es klopfte. Wie auch immer sich Johann ihr Klopfen in seinen gewagtesten Träumen ausgemalt hatte – es klang definitiv anders. Nicht zaghaft, sondern in etwa wie sein Vermieter, wenn dieser Johann darauf hinweisen wollte, seine Klingel zu reparieren. Was er nie tat, denn so ein Teil kostete unnützen Strom.

Nina klopfte noch energischer. Johann hörte es deutlich durch die ganze Wohnung bis hin zu seinem Balkon. Er erhob sich vom ungeliebten, aber wetterfesten Plastikstuhl und stolperte fast über die wenigen Rückstände seines normalen Studentenlebens. Er unterdrückte den Impuls, durch den Türspion zu blicken, und öffnete. Nina stand vor ihm. Tatsächlich.

„Bist du nicht dieser Freak?“ Er verwandelte sich in ein Fragezeichen. Stumm und gekrümmt. „Der, der mich jeden Morgen so dämlich von hier oben anstarrt. Typisch Männer – die denken wirklich, wir merken das nicht.“ Sie wedelte mit ihren Händen vor seinem Gesicht herum. „Hallo? Hat’s dir jetzt die Sprache verschlagen?“ Johann sah als einzigen Ausweg, auf seine Füße zu starren, die sich nicht bewegen konnten. „Also, ich weiß, was du abziehst. Mit mir und auch mit den Leuten jeden Sonntag. Wofür gibt‘s Social Media? Ich weiß auch, dass du meinen Namen von meinem Klingelschild abgeschrieben hast. Und entweder du kommst jetzt mit mir runter auf den Weihnachtsmarkt, oder ich zeige dich an.“ Ihr dunkel geschminkter Mund verzog sich zu einem herausfordernden Lächeln. Johann versuchte krampfhaft, sich auf die Zahlen zu konzentrieren. Wie viel Wärme wurde genau in den Flur verschwendet, wenn seine Tür offen stand?

Das Nächste, was er bemerkte, war Nina, die mit dem Klang ihrer Schritte das Treppenhaus beschallte und ihm voraus auf die überbelichtete Straße trat. Nach hundert Metern begann die Müllhalde, und Johann fühlte sich allein durch die Lichtverschmutzung unglaublich dreckig. Nina bahnte sich ohne Zögern einen Weg; Johann konnte nicht anders, als ihr zu folgen. Um ihn herum war es widerlich laut und verschwenderisch weihnachtlich. Er durfte sie auf keinen Fall in dieser Hölle verlieren.

Doch Nina teilte die Menge. Und seine Gedanken schwankten zwischen Abscheu und Behagen. Sie schien zu schweben, und er mit ihr, nur knapp über dem vergifteten Pflaster. Sie hielt vor ihm an einem Stand, parierte die anzüglichen Kommentare und gab ihre Bestellung auf. Als sie sich wieder umdrehte, reichte sie ihm einen dampfenden Thermobecher. „Ich gebe einen aus. Denn obwohl du ein Freak bist, finde ich dich interessant.“ Johann sagte nichts. Nahm den zukünftigen Müll entgegen. Das kam ihm neben Nina plötzlich gar nicht mehr so schlimm vor. Auf der heißen Pappe leuchtete ein Adventskranz. Johann versuchte ein Lächeln. Und trank.

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