Ich schreibe das hier auf meinem Handy, in der S-Bahn irgendwo zwischen Haltestelle Stuttgart Feuersee und daheim. Daheim ist bei Tübingen, ich lasse jeden Tag viel Zeit auf dieser Strecke. Ich tu es gerne, umziehen wäre keine Option. Entgegen anderslautender Gerüchte ist S-Bahnfahren meistens schön: Im Sommer ist es kühl, im Winter warm. Es ist trocken, man kommt in den Genuss skurriler Dialoge, ala „Was soll ich zu der Hochzeit da anziehen? Was rätst du denn normalerweise Leuten mit meiner Figur?“ „Kohlsuppendiät.“.
Und meiner Meinung nach bräuchte es keine Partnervermittlungen mehr, wenn die Leute mehr mit den Öffentlichen fahren würden.
Fühlen Sie sich unattraktiv?
Fahren Sie zweimal täglich S-Bahn und erfahren Sie: Sie sind stolze Besitzerin des unwiderstehlichsten Lächelns, der lockigsten Locken und augigsten Augen zwischen Feuersee und Gaskessel. Das Abstruseste, das ich bisher gehört habe, war ein Kompliment für die Stachlichkeit der Nieten meiner Jeansjacke, das Traurigste kam von einem älteren Herrn, der mir erzählte, ich ähnle seiner verstorbenen Frau. Gestern lobte jemand – Kein Witz! Dafür habe ich Zeugen! – das schöne Grün meiner Bomberjacke, die im Übrigen khakifarben und eine echt amerikanische Pilotenjacke ist.
Sie sehen, ich bin ein S-Bahn-Fan!
Und schreiben kann man hier auch ganz wunderbar. Alles, was Sie brauchen, ist irgendwas, in das Sie tippen können – von handschriftlichen Notizen rate ich als zu einsichtig ab, mich hat mal ein freundlicher Mitreisender auf ein fehlendes Komma hingewiesen – und ein Paar Kopfhörer. Die Kopfhörer sind optional und dienen mehr der Abschreckung potenziell redewütiger Interessenten. Lassen Sie die Musik ruhig mal aus und wenn Ihnen dann nicht einfällt, was Sie schreiben sollen, lauschen Sie ungeniert den Gesprächen Ihrer sich unbelauscht fühlender Sitznachbarn. Ich habe so schon erfahren, dass ein junger, reichlich angetrunkener Mann mit prächtigem Brusthaar gern an den Nieten meiner Jacke lecken würde (befremdlich, sehr befremdlich!), während sein Kumpel sich überlegte, ob sie wohl noch das Geld fürs Taxi hätten oder heimlaufen müssten; ein andermal habe ich sehr viel über das deutsche Erbrecht gelernt. Solche Momente sind Geschenke des Himmels, lauschen Sie dann einfach, notieren Sie hinterher!
Ein weiterer Vorteil des Schreibens in der Bahn ist, dass Sie jeden Text im Grunde doppelt tippen – zu Hause muss ich meine Ergüsse ja natürlich in den PC hacken und finde so (meistens) schon mal die gröbsten Schnitzer.
Zu Hause habe ich leider kein Schreibzimmer, ich besitze nicht einmal einen eigenen Schreibtisch, aus Gründen der Platzersparnis (45 qm, Dachschräge nicht abgezogen) teilen mein Mann und ich uns einen. Das geht meistens ganz gut und selbst an den echten Totenschädel, den uns eine alte Nachbarin mit dem missverständlichen Ausruf „Der ist von meinem Vater! Der war auch Arzt.“ geschenkt hat und der nun neben dem Drucker steht, selbst an den habe ich mich inzwischen gewöhnt. Mich hat es erst sehr gegruselt, aber wegwerfen kann man fremder Leute Kopf ja auch nicht, besonders wenn er gleichzeitig ein Geschenk und ein Erbstück ist. Im Garten begraben kam uns nicht richtig vor – besonders in Hinblick auf potenzielle, die Erde umbuddelnde Nachmieter … – und naja, wie gesagt, jetzt steht er halt auf unserem Schreibtisch, genauer gesagt, er steht auf Hemingways gesammelten Werken, neben dem Drucker, neben dem Bild mit dem Blick aus der Küche meiner besten Freundin und einem uralten Partyfoto: mein Mann und ich, noch keine zwei Wochen zusammen, in irgendeiner Studentenwohnung, uns über einer geteilten Bierflasche anschmachtend. Manchmal, wenn ich beim Schreiben nicht weiter weiß, frage ich den Schädel inzwischen um Rat, aber er schweigt und grinst und starrt ins Leere. Ehrlich gesagt, ich bin sehr froh, solang er mir nicht antwortet, Konversation mit Untoten habe ich schließlich in der Bahn genug.
Ihre Joan Weng