Horst-Dieter liest: Chinesische Literatur

Der Meister sprach:
„Wo alle hassen, da muss man prüfen;

wo alle lieben, da muss man prüfen.“

Als mir vor etwa vier Jahrzehnten der Roman „Der Traum der roten Kammer“ von Ts’ao Chan (heutige Schreibweise in Pinyin: Cáo Xuěqin) in die Hände fiel und ich den Untertitel „Verfall und Untergang einer chinesischen Großfamilie“ las, konnte ich nicht anders, als zu lesen anfangen. Ein Gegenstück zu den Buddenbrooks aus China? Dazu noch gut zweihundert Jahre früher geschrieben? Doch der Roman war mehr als das, er gab einen Einblick in eine Kultur, die mir bis dahin weitgehend fremd geblieben war, obwohl ich schon lange das kleine Reclam-Heftchen mit Texten von Laotse besaß. Doch diese eher lyrikartigen, lehrhaften Texte blieben mir bis dahin verschlossen. Ich besorgte mir mehr Literatur chinesischer Autoren, die überraschenderweise in deutschen Übersetzungen gut verfügbar waren und beschäftigte mich mit dem I Ging (Pinyin: Yìjīng), das aber zunächst seinen Platz dicht neben Laotse fand. Zwei Übersetzer vor allem dominierten damals den Buchmarkt: Richard Wilhelm (1873 – 1930) und Franz Kuhn (1884 – 1961).

Richard Wilhelm kam im Alter von 27 Jahren zum ersten Mal nach China, und zwar als Missionar in die deutsche Kolonie Kiautschou (Pinyin: Jiāozhōu). Er arbeitete dort als Pfarrer und Pädagoge und erlernte schnell die chinesische Sprache und Schrift. Erst 1907 kehrte er mit seiner Familie nach Deutschland zurück, reiste aber 1908 wieder nach China, wo er bis 1920 blieb. Ein drittes Mal arbeitete er von 1922 bis 1924 als wissenschaftlicher Berater der deutschen Gesandtschaft in Peking und lehrte an der dortigen Universität. Wilhelm erklärte, dass er während seiner ganzen Zeit in China niemanden missioniert habe. Dafür setzte er sich auch in den kriegerischen und revolutionären Auseinandersetzungen (Boxeraufstand, Japanisch-Russischer Krieg und Erster Weltkrieg) für die Menschen ein und vertiefte sich während seiner Aufenthalte in die klassische chinesische Literatur und Philosophie. Er übersetzte das Tao Te King (Pinyin: Daodejing), das Wahre Buch vom südlichen Blütenrand (Zhuāngzǐ), Konfuzius (Kong Futzi) und viele andere klassische Texte. Seine bedeutendste Übersetzung ist aber das I Ging. Dabei arbeitete er mit einem chinesischen Gelehrten zusammen, der ihm die Zusammenhänge erläuterte. Wilhelm übertrug die chinesischen Texte ins Deutsche, rückübersetzte seinen deutschen Text ins Chinesische und prüfte mit dem Gelehrten, ob alles richtig war. Die Übersetzung des Gesamtwerks dauerte so mehr als ein Jahrzehnt. Wilhelms deutsche Ausgabe des I Ging war Grundlage für die Übersetzung in viele andere Sprachen und ist heute noch verfügbar und aktuell. Gerade lese ich wieder seine Chinesischen Märchen. Sie sind immer noch in zahlreichen preiswerten Ausgaben zu haben und online kostenfrei zu lesen. Als Wilhelm 1930 starb, verfasste C.G. Jung einen Nachruf auf ihn. Seine Enkelin Bettina Wilhelm drehte 2011 den sehenswerten Film Wandlungen – Richard Wilhelm und das I Ging, der noch auf DVD zu haben ist.

Während meiner Zeit in Dresden und Meißen kurz nach der Wende (12/90 bis 10/91) fand ich im Regal meines Gastgebers das Buch Jin Ping Mei (Pinyin: Jīnpíngméi). Das erinnerte mich an die Krautrockband King ping meh, die Anfang der 1970er Jahre einige Popularität in Deutschland hatte. Was ich dann aber zu lesen bekam, war ganz etwas anderes und verschaffte mir ausreichend oft rote und heiße Ohren. Zu diesem chinesischen Sittenroman mit seinen derben erotischen und pornographischen Passagen aus der Spätzeit der Ming-Dynastie des 16. Jahrhunderts findet sich kein vergleichbares Werk im europäischen Raum. Übersetzer auch dieses Werkes: Franz Kuhn. Kuhn war von Haus aus Jurist. Doch bereits während seines Studiums in Berlin absolvierte er am dortigen Seminar für Orientalische Sprachen einen Chinesischkurs. 1909 schickte man ihn an die deutsche Gesandtschaft in Peking als Dolmetscher. Er blieb bis 1912 und verbesserte dabei seine Sprachkenntnisse. Als er 1912 aus dem auswärtigen und juristischen Dienst ausschied, kehrte er nach Deutschland zurück und studierte von 1913 bis 1919 Sinologie an der Universität in Berlin. Eine angestrebte wissenschaftliche Karriere unterblieb allerdings, weil er am Lehrstuhl von M. de Groot gefeuert wurde, da er sich weniger um die klassischen Texte als um die chinesische Unterhaltungsliteratur kümmerte. In den 1920er Jahren erschienen dann hauptsächlich im Insel-Verlag seine Roman- und Novellenübersetzungen, 1930 das Jin Ping Mei, das auch international ein großer Erfolg wurde, Kuhn allerdings Konflikte mit den nationalsozialistischen Machthabern bescherte. Einen Skandal gab es auch nach dem Zweiten Weltkrieg noch. In der Schweiz wurde 1959 Kuhns Übersetzung des erotischen Romans Jou Pu Tuan beschlagnahmt und der Drucksatz vernichtet. Erst posthum konnte der Roman 1964 in Deutschland erscheinen. Als Übersetzer ist Kuhn heute unter den Sinologen umstritten, doch seine prächtigen Übertragungen haben auf jeden Fall das Interesse an chinesischer Literatur im deutschsprachigen Raum geweckt.

Einige Novellen in der Übersetzung Kuhns, die in der Reihe Insel-Bücher erschienen sind (Chinesische Meisternovellen, Nr. 387 – und Das Perlenhemd, Nr. 216) habe ich gerade mit Vergnügen wieder gelesen.

Diese Lektüre chinesischer Literatur hat mich nicht unbeeinflusst gelassen. Wer noch das Heftchen „der zweiundvierziger“ aus dem Jahr 2011 besitzt, findet darin meine Chinesische Parabel. In der Anthologie Chinesische Märchen Update 1.1 – Auch Jadedrachen können beißen (Machandel Verlag, 2022 – ISBN 978-3-95959-336-6) ist meine Erzählung Brokat und Ziegenfell enthalten.

Ein Stapel alter und neuer Literatur liegt bereit, um mich in der nächsten Zeit gut zu unterhalten. Vielleicht berichte ich dann in einem weiteren Beitrag über neuere Literatur und neue Übersetzungen aus dem Chinesischen.

Bis dahin wünsche ich Ihnen angenehme Lesestunden mit Literatur aus welchem Land auch immer.

Ihr Horst-Dieter Radke

Teilen: