Männerschnupfen oder die Mimose – Autoren und Pflanzen

Mein Zukünftiger hat Schnupfen. Das ist wirklich eine Katastrophe, weil so ein Schnupfen sich zu einer Sommergrippe auswachsen kann. Und eine Sommergrippe könnte auch eine Schweinegrippe sein. Oder Schlimmeres. Das kennt man ja. Die tödlichen Infekte. Männerleiden halt.

Mein Zukünftiger ist keine Mimose. Im „Zauberberg“ von Thomas Mann werden aus dem Leben einer Mimose sieben schreckliche Jahre. Überhaupt ist „Sick-Lit“ in. „Philadelphia“ ist nicht nur ein Film mit Tom Hanks, sondern auch ein bewegendes Buch. „Beim Leben meiner Schwester“ packte mich Jodie Picoult. „Das Schicksal ist ein mieser Verräter“ – das ist nicht nur ein Buchtitel sondern auch wahr. Das Leben kann schon mal ein mieser Verräter sein, das habe ich am eigenen Leib erfahren. Wortwörtlich.Es gibt ganz schlimme Krankheiten, miese Schicksale, furchtbare Unfälle mit grässlichen Folgen – alles gute Buchthemen irgendwie. „Ziemlich beste Freunde“ ist ein tolles Buch, die Verfilmung ist einfach nur geil.

Was lässt uns gerade „Sick-Lit“ so gerne lesen? Vielleicht, weil wir hoffen, dass uns das Schicksal nie so grausam trifft? Vielleicht, weil wir alle durch das Fernsehen zu geifernden Voyeuren geworden sind? Wir nehmen Teil am Leben der anderen, möglichst an deren peinlichen oder schrecklichen Dingen, aber bitte so, dass es niemand mitbekommt. Trash-Soap. Live Shows. Alle anderen Leben sind irgendwie schlechter als meines. Auch wenn mir gerade die Milch angebrannt ist, weil ich mit meiner Freundin telefoniert habe. Auch wenn ich gerade eine rote Socke von meinem Zukünftigen versehentlich mit meinen ehemals weißen Lieblingsblusen gewaschen habe und nun alle rosa sind. Rosa ist nicht so meine Farbe. Das ist grauenvoll, aber bei anderen ist es noch schlimmer. Und dann bin ich froh, wenn ich das erfahre. Deshalb funktioniert „Sick-Lit“ so gut: Wenn es anderen schlechter geht, kann es bei mir gar nicht so schlimm sein.

Ich weiß gar nicht so genau, ob ich „Sick-Lit“ mag. Ich weiß nur, so Manches davon lese ich. Vielleicht, damit es mir besser geht, ich mich nicht als der Loser des Schicksals fühle. Vielleicht auch, um herauszufinden, wie es anderen damit geht, eine unheilbare, tödliche Krankheit zu haben. Denn manchmal, aber nur manchmal, jammere ich auch.Dabei halte ich mich nicht für eine Mimose. Übrigens liebe ich Mimosen, die Pflanzen. Mimose (Mimosa pudica), auch Schamhafte Sinnpflanze genannt, eine tropische Pflanzenart in der Unterfamilie der Mimosengewächse (Mimosoideae) innerhalb der Familie der Hülsenfrüchtler (Fabaceae). Oft werden auch als Ziergehölze kultivierte Akazien (Acacia) wie z. B. Acacia dealbata als „Mimosen“ bezeichnet.

Schamhafte Sinnpflanze. Sagt das nicht ALLES aus? Alles, was man im Leben sein möchte? Nach außen hin. Manchmal – zumindest den Schwiegereltern gegenüber.

Sie wachsen wild und ungestüm in meinem Lieblingsort – Sie ahnen es schon – in Südfrankreich. Viele. Und überall. Und im September blühen sie, dann ist alles sonnengelb. Wahnsinnig schön. Wie Ginster, nur viel schöner.

So wild sie dort auch wachsen, so empfindlich sind sie. Die Mimose vollführt Nastien, durch Pflanzenorgane vorgegebene Bewegungen. Die Pflanze reagiert auf Erschütterung, schnelle Abkühlung oder rasche Erwärmung. Außerdem auch auf Änderung der Lichtintensität. Dabei wird nur die betroffene Region der Pflanze blattweise eingeklappt. Nach einigen Minuten strecken sich die eingezogenen Zweige und Blätter wieder aus.

Ich glaube, sie reagiert auch auf Liebe und Zuneigung – wie jeder von uns. Vor Jahren habe ich einen kleinen Mimosenableger ausgegraben und mit nach Deutschland gebracht. Ich habe ihn gehegt und gepflegt. Der Mimoserich stand drei Jahre auf meiner Fensterbank, direkt in meinem Blickfeld, wenn ich schrieb. Und ich habe mir eingebildet, dass er seine Nastien auch textabhängig vollzog – schlechter Text und er zog sich zusammen, die feinen Blätter schlossen sich. Umgekehrt wurde ich für gute Texte von ihm mit Entfaltung belohnt. Das war vielleicht Einbildung, aber es hat mir geholfen. Irgendwie, weil ich ja auch nur eine Schreibmimose und auf Reaktion von außen angewiesen bin.

Alles ging gut – bis zu diesem Sommer. Da waren wir über drei Wochen unterwegs. Ohne ihn, weil er ja empfindlich ist. Er war in Obhut, hatte Wasser und Licht und einen genauen Pflegeplan. Ob der wirklich eingehalten wurde, kann ich nicht nachprüfen.

Jedenfalls waren wir dieses Jahr wieder in Südfrankreich, bei all seinen Tanten, Cousinen, Onkeln und Vettern. Wunderbar war das. Aber mein Mimoserich hat es mir übel genommen und ist kurz nach meiner Heimkehr eingegangen. Da ließ er schon den einen oder anderen Trieb hängen, aber als ich ihn freudestrahlend goss und von Frankreich erzählte, war alles vorbei. Ganz vorbei und er … starb. Quasi vor meinen Augen. Warum auch immer. Vielleicht hatte er Heimweh. Oder Männerschnupfen. Oder Schweinegrippe.

Doch mein Wille ist ungebrochen, nächstes Jahr wieder nach Südfrankreich zu fahren. Vielleicht nehme ich mir „Sick-Lit“ als Lektüre mit, statt der Krimis, die ich dieses Jahr gelesen habe. Vielleicht schreibe ich auch „Sick-Lit“ – „Ziemliche beste Mimosen“, „Die Zaubermimose“ oder „Das Schicksal ist eine miese Mimose“. Wer weiß? Vielleicht grabe ich wieder einen Ableger aus und nehme ihn mit. Nein – ganz sicher werde ich das tun. Ich brauche einen Mimoserich an meiner Seite – denn mein Zukünftiger mag Männerkrankheiten haben, eine Mimose ist er nicht … wirklich.

Ihre Ulrike Renk

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