Wiedergelesen: Hermann Hesse – Klingsors letzter Sommer

Im August 1981 fuhren wir mit unserem grünen Käfer ins Tessin. Wir zelteten unweit von Ascona im Maggiatal. Der Fluss war damals fast ausgetrocknet, aber in der kleinen Rinne, in der noch Wasser floss, konnte man gut schwimmen. Das taten wir an den heißen Tagen auch, zumindest so lange, bis neben meiner Frau eine der schwarzen Schlangen schwamm, vor denen man uns gewarnt hatte. Da verlegten wir uns mehr auf das Wandern und das Bummeln in Ascona und Locarno.

Gerade in den Bergen, meist auf baumbeschatteten Wegen, ließ es sich auch spät am Tage noch gut in der sommerlichen Hitze aushalten. Wir bewunderten die leer stehenden steinernen Häuser, manche mehr, manche weniger verfallen. Sie standen verlassen und einsam da, und wir diskutierten, ob wir uns solch ein Haus kaufen sollten, als Rückzugsort, wenn uns der Lärm draußen in der Welt zu viel würde, vielleicht auch als Zufluchtsort, wenn all die Katastrophen eintreten würden, die der Club of Rome seit 1972 prognostizierte, u. a. in dem Bericht „Die Grenzen des Wachstums“.

Kurz vor der Reise hatte ich Hesses Klingsors letzter Sommer gelesen und die Stimmung dieser expressionistischen Erzählung mitgenommen. Es ist in der Erzählung viel von Farben die Rede, Gedichte werden aufgesagt und der Tod ist allgegenwärtig, gegen den Klingsor sich dann und wann aggressiv mit Farben zur Wehr setzt. Es ist trotzdem kein trauriges Buch. In dieser Stimmung streiften wir im Tessin umher, in den Bergen, durch die Wälder, am Lago Maggiore entlang, träumten auf dem Monte Verità, auf dem damals noch ein Museum in einem hölzernen Bau geöffnet war. Eines Tages fuhren wir hinüber nach Lugano.

Wir stiegen aus der lauten Stadt am See hinauf nach Montagnola. Kein kurzer Weg, oft steil, aber wenn man noch jung ist, macht das nicht viel aus. Es ging an grasenden Ziegen vorbei, und irgendwann beschlich uns das Gefühl, dass wir falsch gegangen waren. Doch dann nach einer Biegung kam Montagnola in den Blick. Bald war auch die Casa Camuzzi zu sehen. Dort hatte Hesse gelebt, als er den Klingsor schrieb und selbst mit Block und Aquarellkasten durch die Berge zog.

Hesse war seit fast zwanzig Jahren tot und hatte die letzten Jahrzehnte seines Lebens nicht mehr in diesem schlossartigen Gebäude gewohnt. Gunter Böhmer (1911–1986), Hesses Freund, der ihn porträtiert und einige seiner Werke illustriert hatte, lebte aber noch dort, war nur leider nicht anwesend, als wir in den Innenhof schauten und nachfragten. Das ganze Örtchen machte einen stillen und verträumten Eindruck, wenige Menschen auf den Straßen, aber hier und da standen Autos, was zu Hesses Zeiten in den 1920er-Jahren sicher noch nicht der Fall gewesen war. Als wir vor zwei Jahren erneut in Montagnola waren, lärmte der Ort, inzwischen leicht über breite Straßen mit dem Auto zu erreichen, aber nur mit wenigen Parkplätzen ausgestattet. Bei unserem ersten Besuch lag jedoch noch ein Zauber über dem Dorf, über der Casa Camuzzi, und die Erwartung, dass der Zauberer Klingsor gleich aus dem Haus treten oder aus dem Wald kommen würde, schien nicht weit hergeholt­­.

Die Erzählung hatte ich seither nicht mehr gelesen. Manches andere von Hesse jedoch wieder und wieder. Veränderungen in meinem Leben ließen auch die Stimmungen, wie sie im Klingsor beschrieben werden, kaum noch aufkommen. Vor ein paar Wochen kam mir dieses fast absichtslose Werk Hesses wieder in den Blick, nämlich als schön gestaltete Ausgabe der Officina Ludi. Obwohl ich die Erzählung in der Gesamtausgabe im Regal habe, griff ich ohne lange zu überlegen zu.

Karin Widmer, eine Urenklin von Hermann Hesse, hat die Erzählung wunderbar illustriert. Hier und da meint man ein wenig von den Malkünsten des Dichters wiederzuerkennen, doch der eigene Stil der Künstlerin ist nicht zu übersehen. Dafür hat sich der Dichter selbst in manche Illustration geschlichen. Zum Ende eines jeden Kapitels gibt es ein doppelseitiges Bild, das zumindest mir die Erinnerung an den Sommer 1981 mit vielen Assoziationen in Erinnerung ruft. Und vom Zauber der Erzählung ging auch nichts verloren. Nichts für Leser, die Spannung lieben. Aber wer Stimmungen mag, sich jenseits der Realität gerne verzaubern lässt und Farben liebt, der wird seine Freude an diesem Buch haben.

Mit 19,80 Euro wird das Buch meines Erachtens viel zu preiswert verkauft. Sie sollten zugreifen, bevor es vergriffen ist.

Ihr

Horst-Dieter Radke

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