1. Advent: Ein Wintermärchen

Strickrausch

von Horst-Dieter Radke

Damals, als es noch richtigen Winter gab, überkam Oma Malwine jedes Jahr, wenn es begann, richtig kalt zu werden, spätestens aber in der Woche vor dem ersten Advent, ein Rausch der besonderen Art. Sie begann zu stricken, erst für ihren Mann und ihre Kinder, später für die Enkelkinder, dann für Bedürftige, zuletzt für die anderen im Altenheim. Sie müsse es nicht mehr tun, hatte man versucht, ihr zu erklären. Sie könne die letzten Jahre ihres Lebens in Ruhe genießen. Doch das war vergebliche Mühe. Oma Malwine hatte bereits die Stricknadeln gezückt, und die würde sie auch nicht wieder wegräumen, sagte sie.

Hatte sie die zum Stricken nötige Wolle lange noch selbst in jenem kleinen Strickladen am Rande der Vorstadt eingekauft, so lieferte sie inzwischen der Paketdienst pünktlich ab dem ersten Advent. Jede Woche kam eine weitere Sendung, und der Ausstoß an Handschuhen, Mützen, Schals, Pullovern, Nierenwärmern und noch so manch anderen Kleidungsstücken war enorm.

Als es im Winter nicht mehr so richtig kalt werden wollte, kam bei Oma Malwine jedoch so einiges durcheinander. Sie rief im Strickladen an, und danach setzten die Lieferungen nie mehr aus. Sie strickte auch nach Weihnachten weiter. Vielleicht hört sie Ostern auf, hoffte die Heimleitung, aber dem war nicht so. Das Jahr war verregnet und vergleichsweise kühl, was Oma Malwine dazu antrieb, noch emsiger zu stricken.

Man zog Mediziner der Universitätsklinik zu Rate, doch die hatten Schwierigkeiten, sie richtig zu untersuchen, denn sie mochte das Stricken nicht unterbrechen. Es reiche schon, sagte sie, wenn sie zum Essen und Schlafen damit aufhören müsse. Untersuchen müssten die Ärzte beim Stricken – oder es bleiben lassen.

Man mutmaßte, das irgendetwas mit der Glucoseverarbeitung bei ihr nicht in Ordnung sei, dass beim Transport zu den Zielzellen irgendetwas blockiere und die Diffusion erschwere. Also setzte man sie auf eine spezielle Diät und gab ihr eine Infusion. Doch Oma Malwine wurde nur dünner, dabei aber umso emsiger.

Bald konnte das Altenheim die Stricksachen nicht mehr fassen. Sie wurden nach außen gegeben, an Basare, an Bedürftige, an jede und jeden, der oder die nicht schnell genug Nein sagen konnte. Doch auch dabei kam man bald an den Punkt, dass Sättigung erreicht war. Omas Strickwaren wurden nun im ganzen Kreis verteilt, im Jahr darauf mussten gar landesweite Verteilstellen eingerichtet werden. Zuletzt half die Bundeswehr, Handschuhe, Socken, Mützen, Pullover und Schals auszufahren.

Kurz vor dem nächsten Advent konnte das ganze Land die Stricksachen nicht mehr fassen. Diplomaten nahmen Kontakt zu den nächsten Nachbarn auf, bald darauf zu den entfernteren und verhandelten über Abnahmen. Bis  Ostern sprach man auf der ganzen Welt nur noch über Oma Malwines Stricksachen. Pessimisten befürchteten, dass zuletzt alle Menschen unter Malwines Stricksachen ersticken müssten. Die Optimisten entgegneten, dass es keine neuen Kriege gegeben habe, seit Oma Malwine durchgehend stricke, und dass alte Kriege aufgegeben werden mussten, um die Flut an Stricksachen zu bewältigen. Streit unter Politikern gab es kaum noch, weil alle an einem Strickstrang zogen und überlegten: Wohin damit?

Oma Malwine focht das alles nicht an. Solange sie genug zum Stricken habe, sagte sie, gehe die Welt nicht unter. Und wenn sie nicht gestorben ist, dann strickt sie heute noch.

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