Bücher für die Ausgangsperre: Giovanni Boccaccio – Das Decameron

Am Anfang stellen die sieben jungen Frauen fest, „dass eine jede von uns sich vor sich selbst fürchtet“. Draußen im Florenz des Jahres 1348 wütet die Pest, auf den Straßen stapeln sich die Toten, die Damen haben längst ihre Familien verloren, sind verwaist und total verwahrlost – und da fürchten sie sich vor sich selbst?

Das ist der Ausgangspunkt des Decameron (1470) von Giovanni Boccaccio. Für die Hauptpersonen ist die Pest ein Zufall, ein unerklärliches Geschick der Fortuna, das sie nicht zu einer Strafe Gottes überhöhen. Sie fürchten sich also nicht vor der Seuche, sondern davor, was diese mit den Bürgern Florenz und ihnen selbst gemacht hat: Sie haben alle Vernunft aufgegeben, ihren Trieben freien Lauf gelassen und so die öffentliche Ordnung zerstört.

Aus diesem sich selbst zerfleischenden Florenz fliehen die sieben Frauen, die zur Komplettierung der Zehnerzahl noch drei Männer mitnehmen, auf ein Landgut in der Nähe der Stadt. Dort wollen sie für zehn Tage ein persönliches Shutdown, eine Auszeit aus der menschlichen Gesellschaft nehmen und wieder zu Vernunft und Sinnen kommen. Sie sind „durch irgendeinen glücklichen Zufall“ davongekommen und wollen jetzt, „ohne in (ihrem) Tun die Grenzen des Vernünftigen zu überschreiten, festlich und vergnüglich die Tage miteinander verbringen“. Unter vernünftigem und vergnüglichem Zeitvertreib verstehen die zehn Flüchtlinge vor allem: sich Geschichten zu erzählen. Zehn Geschichten mal zehn Tage macht einhundert Novellen, die durch die Rahmenhandlung zusammengehalten werden.

Anhand der Rahmenhandlung ist nun zu beobachten, wie die zehn jungen Florentiner im Verlauf des Erzählens beginnen, die Furcht vor sich selbst zu verlieren und wieder zu zivilisierten Menschen werden. Dieses Zivilisierungswerk leisten nun nicht in erster Linie die moralischen Botschaften, die man einzelnen Novellen entnehmen könnte, sondern es ist das Erzählen selbst, womit sich die ramponierten Helden selber und gegenseitig therapieren. Erzählen ist ja ein Dialog zwischen Erzähler und Hörer, der die verschiedenen Kräfte der Vernunft und der Vorstellung anregt und anspannt, so dass die egoistischen Überlebenstriebe mehr und mehr im Zaum gehalten werden können. Und darüber hinaus ist Erzählen Arbeit, das heißt ganz allgemein ausgedrückt: der Stoffwechsel des Menschen mit der Natur (Karl Marx), eine Auseinandersetzung, die nur in menschlicher Gemeinschaft vonstattengehen kann, wo alle aufeinander verwiesen sind und ihre Lebenserfahrungen austauschen, oder kurz: Erzählen ist ein sozialer Prozess. So erarbeiten sich die Hauptpersonen in zehn Tagen ihre Menschlichkeit zurück.

Es sind vergnügliche Menschheitserfahrungen, die die meisten Novellen durchbuchstabieren, vor allem, aber eben nicht nur: Liebe, Erotik, Sex. Es geht in ihnen sehr sinnenfroh zu, die irdische Glückseligkeit steht mindestens gleichberechtigt neben der himmlischen Felicitas. So verweist das Decameron auch auf die Göttliche Komödie (1321) von Dante Alighieri, in der auch Diesseits und Jenseits in einem Gleichgewicht stehen und auf einander bezogen sind.

Dazu kommt ein robuster und unverwüstlicher Humor. Meine Lieblingsnovelle im Moment ist die dritte vom dritten Tag. Eine adlige Dame, die unglücklich verheiratet ist, verliebt sich eines Tages in einen Edelmann, der nichts davon bemerkt. Statt ihre Liebesbedürfnisse direkt und in aller Öffentlichkeit zu befriedigen (und einen unheilbaren gesellschaftlichen Skandal zu provozieren) oder sie einfach zu unterdrücken (und eine depressive Episode zu riskieren), geht sie den dritten Weg und setzt die Vernunft ein. Sie ersinnt eine List, um die Aufmerksamkeit und die Liebe des Edelmanns zu gewinnen. Dafür nutzt sie einen dummen, aber frommen Mönch aus, dem sie die Lüge auftischt, dass jener Edelmann ihr angeblich in ehrenrühriger Form nachstellt und mit Blicken und Gesten belästigt. Der Mönch erweist sich als das rechte heilsbringende Instrument und tadelt bei nächster Gelegenheit den Edelmann. Dieser ist völlig überrascht, aber da er schlau ist, ahnt er, dass die Dame ihn ködern will, und schon ist sein Interesse geweckt. Also tut er nun genau das, was die Dame ihm vorgeworfen hat, geht täglich wie zufällig an ihrem Haus vorbei, wo sie schon am Fenster steht und beide die ersten Blicke und Gesten austauschen. Nun wird langsam aus Interesse Begierde, die die Dame mithilfe des unwissenden Mönches weiter anheizt. Kurz vor dem Höhepunkt der Novelle holt die Dame zum finalen Schlag aus. Sie beschwert sich beim Mönch, dass ihr angeblicher Verehrer sogar eines Nachts, als ihr Mann gerade außer Hauses war, mit eindeutigen Absichten auf den Baum vor ihrem Fenster geklettert sei. Sogleich stellt der erzürnte Mönch den Edelmann zur Rede und verurteilt ihn scharf. Dieser hat die Botschaft verstanden, und am gleichen Abend klettert er wie befohlen auf den Baum und dringt durchs Fenster zu seiner Angebetenen vor, worauf sich beide der Glückseligkeit hingeben. Gemeinsam lachen sie über den Mönch, den „Bruder Schafskopf“, der, während er sich selbst bemühte, ins himmlische Paradies zu kommen, anderen das irdische Paradies bereitete.

Das Liebespaar verbringt noch viele weitere Nächte miteinander in Seligkeit, „wohin Gott in seiner großen Barmherzigkeit (…) alle Christenseelen, die es danach verlangt, bitte geleiten möge“.

Wow, in diesem Sinne wünsche ich allen Blog-Lesern und –Leserinnen auch in unserer Zeit des Social distancing noch viele glückselige Momente. Dazu verhelfen unbedingt auch die himmlischen Novellen des Decameron.

Ihr

Jürgen Block

Buchtipp: Zu empfehlen ist die Ausgabe aus dem Reclam-Verlag von 2017, die vom Decameron-Spezialisten Peter Brockmeier in eine moderne, vielleicht manchmal etwas zu nüchterne Sprache übersetzt ist, dafür aber über einen hilfreichen Kommentar und ein erhellendes Nachwort verfügt.

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