Der erste Junge, mit dem ich ‚offiziell‘ ging, war blond, mit blauen Augen und, was mich besonders beeindruckte, er vermochte eine Zigarette in nur drei Zügen aufzurauchen. Mir wurde schon nach dem zweiten schlecht. Außerdem besuchte er bereits die zehnte Klasse, was man ja fast als Abiturient gelten lassen konnte. Meine Freundinnen und ich waren uns einig, dass er einen echten Glücksgriff darstellte und ich hätte es bestimmt von Ostern bis zu den Sommerferien mit ihm ausgehalten, wäre mir nicht Hans Griebenrath dazwischen gekommen.
Wie jede wirklich große Liebesgeschichte fing das mit Hans und mir ganz harmlos an: Mein Bruder brachte ihn von der Schule mit.
Mein Bruder, sollte man wissen, pflegte seine Hausarbeiten für Deutsch in der Pause von seinem besten Freund abzuschreiben, auf den Knien, hinter die Papiermülltonne gekauer. Da er dies recht gewohnheitsmäßig tat, war es seinem Deutschlehrer nun zu dumm geworden. Als Lektion sollte mein Bruder ein fünfzehnminütiges Referat halten, über Hermann Hesses „Unterm Rad“. Bedauerlicherweise kam diese gerechte Bestrafung zu spät, mein Bruder war schon grundverdorben, ein verlorenes Schäfchen für die deutsche Literatur und so fragte er mit schmeichlerischer Stimme mich, sein ‚süßes Schwesterherz‘.
Ich konnte doch so schnell lesen, ich war doch so interessiert an allem Gedrucktem, wollte ich nicht vielleicht für ihn das Referat … Nein? Auch nicht, wenn er mir kommenden Sonntag seine Schwarzwälder Kirschrolle überließ? Wirklich nein? Auch wenn er noch eine Tafel Ritter Sport obendrauf legte? Immer noch nein! Na gut, wenn ich so ein Kameradenschwein war, dann würde er jetzt sofort zur Mama gehen und erzählen, warum das Garagentor neuerdings eine Delle hatte!
Ich fügte mich also.
Erst sammelte ich ein wenig abstraktes Fachwissen, so Zeugs wie starke autobiographische Bezüge zum Leben Hermann Hesses, Kritik am Schulsystem um 1900, das Motiv des Rades, das Motiv der Homoerotik, so etwas mögen Lehrer bekanntlich, und dann las ich.
Ich las „Herr Joseph Griebenrath, Zwischenhändler und Agent, zeichnete sich durch keinerlei Vorzüge oder Eigenheiten vor seinen Mitbürgern aus.“
Das gefiel mir, Mittelmäßigkeit ist eine Eigenschaft, die in Romanen viel zu wenig Beachtung findet. Überhaupt gefiel mir, was ich las.
Hans Griebenrath, Sohn des alten „Philisters“ Joseph Griebenrath wird von diesem und einigen Lehrern als hochbegabt für das Landesexamen in Stuttgart vorbereitet. Hans wahres, naturverbundenes Wesen ignorieren sie, wenn sie es denn überhaupt erkennen, und als Hans sich in der Klosterschule Maulbronn dann noch mit dem Träumer Herrmann einlässt, aber auch immer mehr unter den Folgen der Überlastung zu leiden beginnt, ist die Katastrophe vorbestimmt.
Maulbronn kannte ich, Stuttgart sowieso und da ich noch nicht ganz fünfzehn war, verstand ich Hans Griebenrath, diesen jungen Ehrgeizling, diesen jungen Versager, wie man ihn vielleicht nur mit noch nicht ganz fünfzehn verstehen kann. Ich verstand seine Liebe zum Angeln, seine heimliche Leidenschaft für das Nichtstun, auch ich begeisterte mich für den leichtfertigen Phantasten Herrmann und wusste nur zu gut, wie es sich anfühlt, zwischen Freundestreue und Lehrerehrgeiz entscheiden zu müssen.
Aber gerade als ich an der Stelle war, als Hans die hübsche Emma kennenlernt, Glück und happy end noch einmal, einen kurzen Moment nur, greifbar schien, da rief meine Mutter, mein Freund sei am Telefon. Mit dem war ich zum Eis verabredet gewesen, den hatte ich ganz vergessen und als ich es ihm stammelnd erklärte, da hatte dieser tumbe Ödling, dieser ‚Philister in the making‘ kein Verständnis! Er meinte doch tatsächlich, ich solle mich auf mein Rad schwingen und noch schnell kommen! Können Sie sich das vorstellen? Hans Griebenrath kurz vor der vielleicht doch noch möglichen Erlösung durch die Liebe und dieser Kerl kam mir mit Eisessen! Wie soll man sich Himbeer-Vanille schmecken lassen, wenn zu Hause Hans zwischen Rettung und Untergang schwebt?
Ich habe kurzer Hand Schluss mit diesem Banausen gemacht.
Wer nicht versteht, dass jemand lesen muss, der kann auch sonst nicht viel taugen. Und so galten die Tränen, die ich auf Seite 213 weinte, schließlich auch allein dem unglücklichen Hans.
Nur um eines tut es mir noch heute leid: Ich hätte zu gern gelernt, wie man eine Zigarette in drei Zügen raucht!
Ihre Joan Weng