Elisabeth Engelhardt: Die Erzählungen

Elisabeth Engelhardt, 1925 in der Nähe von Nürnberg geboren und 1978 ebenda gestorben, ist eine Schriftstellerin, die zu den (fast) vergessenen deutschen Autorinnen gerechnet werden kann. Zwar werden dann und wann Veranstaltungen zur Erinnerung im Mittelfränkischen Raum durchgeführt – die letzte nach meinen Recherchen im Jahr 2018 in Schwanstetten, ihrem Geburtsort – und es gibt einen Literaturpreis unter ihrem Namen, der alle drei Jahre vom Landkreis Roth verliehen wird, doch ihre Bücher sind nur noch antiquarisch zu bekommen, wenn überhaupt. Das veröffentlichte Werk ist überschaubar: Zwei Romane, zwei Erzählbände, ein Buch, bei dem sie als Herausgeberin auftritt, und verstreut über diverse Anthologien weitere Erzählungen. Einen Nachlass soll es auch noch geben. Einer der Erzählbände, posthum herausgegeben, gibt einen kleinen Einblick. Im Jahr 1994 veröffentlichte Ingeborg Höverkamp eine Biografie, die ebenfalls nur noch über das Antiquariat zu bekommen ist. Im Untertitel steht: „Eine fränkische Schriftstellerin“. Wikipedia ist großzügiger. Dort ist zu lesen: „… eine deutsche Schriftstellerin, Malerin und Dekorationsnäherin.“ Letzteres weist auf Engelhardts Brotberuf an den städtischen Bühnen Nürnbergs hin.

Es sind keineswegs rein fränkische Themen, die Elisabeth Engelhardt aufgreift, insofern wäre es falsch, sie als regionale Autorin zu bezeichnen. Zu Lebzeiten wurde sie auch so nicht wahrgenommen. Sie gehörte in den 1960er-Jahren der Gruppe 61 an, war mit Günter Wallraff und Max von der Grün bekannt, und wenn man weiß, dass die Gruppe 61 sich um die künstlerische Auseinandersetzung mit der industriellen Arbeitswelt bemühte, bekommt man auch schon eine Ahnung davon, worum sich die Themen in Engelhardts Erzählungen drehen. In der Titelerzählung der Nachlasssammlung Zwischen 6 und 6 beschreibt sie realistisch, wie eine Frau mit ihren Kindern täglich mit dem Bus zur Arbeit in die nahe Stadt fährt, sie dort in den Werkskindergarten bringt, anschließend zum Fließband hetzt und nach der Arbeit mit dem Bus zurückfährt. Was sich in dieser kurzen Zusammenfassung eher wie ein banaler Zeitungsbericht liest, ist in der Erzählung aber ganz anders. Die Situationen im Bus, am Arbeitsplatz sind so realitätsnah geschrieben, dass man das Gefühl hat, ganz dicht dabei zu sein, fast selbst mit im Bus zu sitzen.

[Zitat:]

Irgendein ekelhafter Kerl schnüffelt und regt sich auf und es tönt in seiner Nase wie er die Luft ansaugt.

»Stinkt«, sagt er, »hier stinkts wie die Pest!«

Nun ja, ich spüre es warm durch die Windeln, es ärgert mich. »Sie haben die Windeln auch vollgemacht in dem Alter, oder?«

»Aber nicht im Omnibus.«

»Geben Sie mir jede Woche Ihr Geld«, sage ich, »dann kann ich zuhause bleiben«, ist ja wahr, oder? Was die Männer für Nasen haben, als ob das Gift wäre. …

[Zitat Ende]

Auf einer zweiten Ebene erfährt man, dass der Mann seinen ganzen Lohn versäuft und auch noch ihr Geld, wenn er es findet. Dieses vermeintliche Klischee wird in einem Nebensatz noch aufgebrochen, bevor die Geschichte in der Katastrophe endet, die für die Protagonistin letzten Endes keine ist.

In der Titelerzählung ihres ersten Erzählungsbandes Johanna geht, 1972 bei Glock und Lutz in Nürnberg erschienen und von Manfred Distler illustriert, geht es um eine alte Frau, um deren Erbschaft sich Verwandtschaft, Pfarrer und andere noch zu Lebzeiten sorgen und einen Krankenausaufenthalt und ihr vermeintliches baldiges Ableben nutzen, sich daran zu vergreifen. Aber Johanna überlebt und wird aus dem Krankenhaus entlassen. Wohnung und alles, was sie besaß, sind aber bereits weg.

Man könnte Elisabeth Engelhardt eine realistische Erzählerin nennen, wenn man nur diese Art ihrer Erzählungen betrachtet. In den meisten Ihrer Erzählungen kommt aber noch ein phantastischer Einschlag hinzu, etwa in Amanda“ (aus: Zwischen 6 und 6), in der die Protagonistin unter diversen Krankheiten leidet (… schließlich wurde vom ewigen Sitzen ihre Bandscheibe morsch, und ihre Gelenke nutzten sich ab, ihr Blut wurde dick, dickflüssig wie Sirup, und ihr Kreislauf, der lief nicht wie er sollte, schleppte sich träge dahin …). Sie ist 58 Jahre alt und hat 45 davon gearbeitet. Am liebsten würde sie in Rente gehen, doch das lässt man sie nicht. Eine Kollegin am Fließband sagt, man müsse schon mit dem Kopf unterm Arm zum Arzt kommen, damit der einem die Arbeitsunfähigkeit bescheinige. Als Amanda das nächste Mal aus dem Waschraum kommt, trägt sie ihren Kopf unter dem Arm, Amanda weiß selbst nicht, wie das passiert ist. Der Besuch beim Arzt wird allerdings nicht einfacher als vorher. In der Erzählung Walburgas Nächte (aus: Johanna geht) pirscht eine alte Frau mit ihrer Donnerbüchse durch den Wald und richtet Unheil an.

[Zitat:]

Sie kletterte rüstig den Abkürzungsweg empor, eine Stunde nach Mitternacht, Neumond, braunes Kopftuch umgebunden, drinnen im Kopf eine Schraube locker, hinter den Ohren hing je ein Büschel grauer Haare, als besonderes Merkmal muß ihr grauer Bart und Schnurrbart angeführt werden, denn Walburga rasierte sich nie, und wie immer auf ihren Pirschgängen, war sie mit einer Männerhose bekleidet, feldgrauer Jacke und Männerstiefeln.

[Zitat Ende]

Was Walburga in ihren (fantastischen) Wahnvorstellungen alles sieht, beschreibt die Autorin so realistisch, dass man das Unheil schon ahnt, das dann auch zielgenau eintrifft. Doch was und wie es passiert, konnte man nicht voraussehen, insofern birgt die Geschichte ausreichend Überraschungspotenzial, auch was die Konsequenzen am Ende betrifft.

Die letzte Erzählung im Nachlassband ist Die Fabel vom Eichelhäher, die nichts von ihrer Aktualität verloren hat, ja vielleicht heute brennender ist als zu der Zeit, als Engelhardt sie geschrieben hat. Der große Geier verwahrt alle anderen Vögel in Käfigen. Als Ersatz für die Freiheit verspricht er ihnen Sicherheit und immer ausreichend Körner und Wasser. Den Vögeln erscheint dies als die bessere Variante, und als ein Eichelhäher aufbegehrt und in die Freiheit zurückwill – was er natürlich nicht darf –, wenden sich die anderen Vögel gegen ihn. In einer Zeit, in der Demagogen wieder großen Zulauf haben, brennt solch eine Fabel nach dem Lesen besonders hell. Aber man muss sie lesen können, und das ist leider nur in begrenztem Rahmen der Fall, eben wenn man eines der wenigen antiquarisch verfügbaren Exemplare der Erzählbände erwischt.

Elisabeth Engelhardt sollte gelesen werden können. Sie ist zu Unrecht (fast) vergessen und keineswegs nur eine zeitlich- oder regional festzumachende Schriftstellerin. Anders als die Romane, zu denen es Neuauflagen gab, sind die Erzählungen jeweils nur in einer kleinen Auflage erschienen und die Beiträge in den Anthologien sowieso mit diesen untergegangen. Schade – eine Sammlung dieser Texte in einem weiteren Band wäre schön. Wichtiger als (vielleicht) eine Werkausgabe im Jahr 2049 wäre eine „Leseausgabe“ ihres überschaubaren Werkes JETZT.

Rezensionen über ihre Romane und Biografie folgen!

Bis dahin

Ihr Horst-Dieter Radke

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