Die Lektüre geht mir nach, ich weiß nur noch nicht wieso. Was kann man von Literatur erwarten? Die FAZ hat in diesem Erzählband die perfekte amerikanische Short Story gefunden. Dann mal los! Die Geschichten spielen in dem Ort Knockemstiff in Ohio, was auf Deutsch so viel heißt wie „Schlag ihn tot“. Der Name ist Programm, die Figuren würden sich am liebsten gegenseitig umbringen, aber selbst das kriegen sie nicht richtig hin, wie sie ihr Leben nicht hinkriegen. Es ist eine Welt der alten und jungen weißen Männer, Puppen und Frauen kommen auch drin vor. Man hält sich mit Drogen aller Art über Wasser und sonst herrschen überall nur Armut, Dummheit und Gewalt.
Muss man das lesen? Besonders wenn man nach der Lektüre des Klappentextes weiß, wie die Chose läuft?
Evi, meine Frau, sagt immer: Wenn sie in menschliche Abgründe gucken will, braucht sie kein Buch, da reicht ihr das Fenster zur Straße.
Aber ich bezweifle, dass das, was sie auf der Straße sieht, an Knockemstiff heranreicht, da Literatur bekanntlich realistischer ist als die Realität. In der Kurzgeschichte Mit Haut und Haar geht es um den Jugendlichen Daniel, den der Vater dabei erwischt, wie er auf die Puppe seiner kleinen Schwester ejakuliert. Im Buch werden andere Worte benutzt, logisch, aber das muss man schon mit eigenen Augen lesen. Zur Strafe schneidet der Vater ihm vor dem Abendessen die Haare mit dem Fleischmesser, mit dem sonst Mortadellascheiben geschnitten oder Schweinebacken entborstet werden. Er hätte ihm auch den Kopf abschneiden können, aber der Vater ist halt besonders boshaft. Nach der Frisur hatte keiner mehr Hunger, wegen der Haare in der Bohnensuppe und der Blutspritzer auf dem Maisbrot. Dabei hat Daniel sich so sehr vor Schulbeginn wieder lange Haare gewünscht, die seine Akne und sonstige Hässlichkeit verdecken sollen. Ein paar Tage später läuft er von zu Hause fort und gerät natürlich, frei nach Wolf Biermann, vom Regen in die Jauche. Ein Trucker pickt ihn auf und schleppt ihn in seinen Trailer, der mit Ponderosa überschrieben ist. Der Autor Pollock versteht es, seine Kurzgeschichten dystopisch zu beginnen und sich dann langsam zu steigern. Der Trucker ist nämlich so ein Norman-Bates-Verschnitt mit einer gewissen Anhänglichkeit zur toten Mutter. Er hübscht den armen Daniel mit der Langhaarperücke seiner Mutter auf, wie eine lebende Puppe: „Es gibt nicht viele Puppen, die so hübsch aussehen.“ Aha, sagt sich der Literaturfreund, die Puppe ist mithin der Falke, der als Dingsymbol eine zentrale, leitmotivische Rolle spielt und somit tiefere Sinnzusammenhänge abbildet. Kann man so sehen, denn die Personen behandeln einander wie Dinge, nein, manche Dinge behandeln sie besser, Auto und Fernseher zum Beispiel, die kaputtgehen könnten. Dann schließt Daniel die Augen und die Geschichte ist für den Leser aus. Aber für Daniel beginnt ein neuer, tieferer Höllenkreis.
Knockemstiff ist die Hölle, und ob die achtzehn Geschichten die Verdoppelung der neun Dantischen Höllenkreise sein sollen? Keine Ahnung. Ich weiß nur: Wenn man die Short Storys gelesen hat, will man entweder nur noch Speedpillen nehmen oder alle Verhältnisse umwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, geknechtetes und verächtliches Wesen ist (Karl Marx). Die Welt in Knockemstiff ist nicht mehr zu reparieren oder zu reformieren, sondern von Grund auf kaputt. Die Menschen haben das gegenseitige Missbrauchen und Missbrauchtwerden mit Haut und Haaren gefressen, schlimmer kann es nicht mehr werden, selbst unter der Erde geht das Gemetzel weiter. Dies zeigen die Geschichten bis in die letzte Konsequenz und ohne den Anflug eines Hoffnungsschimmers tatsächlich perfekt. Aber sind es darum auch perfekte Geschichten?
„Na, denn gute Nacht“, sagt Evi, „und was hat man davon, wenn man sich achtzehn von diesen perfekten Kalibern reinzieht?“
In einer Szene konzentriert sich das ganze Elend in einem Satz, der den Leser berühren könnte – womit erwiesen wäre, dass in der Welt auch noch Mitleid und nicht nur Hass und Selbstzerstörung zu Hause sind.
Nachdem der Vater ihm zur Strafe und Erniedrigung wegen der Sache mit der Puppe die Haare vom Kopf gerupft hat, sitzt Daniel unter einem Baum mit Blick auf den Friedhof. Und dann schreibt ihm der Erzähler folgende Worte zu: „Auf dem Friedhof, unter der Erde, da wuchsen die Haare weiter.“ Daniel hätte Gründe zu fliehen, sich mit Gewalt gegen den Vater aufzulehnen oder sie auch gegen sich selbst zu richten, aber im Moment beneidet er die Toten, deren Haare ungestört weiterwachsen. Haarwuchs ist wichtiger als das Leben. Und so trägt er am Ende Perücke, stellt sich tot und lässt die Gewalt über sich ergehen.
„Perfekt! Aber ich guck doch lieber aus dem Fenster.“
Ihr Jürgen Block