Best of 42er: Jürgens Buchtipp: Arno Schmidt – „Kaff auch Mare Crisium“

Jürgen: Schon durch?

Arno: Äh, ja.

Jürgen: Und? Findest du es nicht auch saukomisch, wie er schreibt? Die total verrückte „Orrto=Graffie“ des Autors?

Arno: Je nun.

Jürgen: Statt „Kalter Krieg“ schreibt er „Calton Creek“; statt Kriemhild „Cream=hilled“ und statt Romantik „Roh-Mann-Tick“. Witzig, was?

Arno: Stimmt.

Jürgen: Nun lass dir nicht alles aus der Nase ziehen.

Arno: Ehrlich gesagt fand ich den Roman nicht nur lustig, sondern auch etwas traurig, nein, unendlich traurig sogar. Wie sich das Heldenpaar vergeblich abstrampelt, um zueinander zu finden: Sie, Hertha, ein Vergewaltigungsopfer während der Flucht aus Schlesien; er, Karl, ein Kriegstraumatisierter mit kaputtem Herzen. Faszinierend ist schon, wie Karl sein schweres Schicksal abarbeitet: Indem seine Tag und Nacht auf Hochtouren laufende Fantasie alles, was er erlebt und gelesen hat, in einen überbordenden Erzählstrom verwandelt. So treten im Roman gleichzeitig zwei Parallelgeschichten auf: Die eine erzählt von dem Paar Hertha und Karl, das in der Lüneburger Heide Tante Heete besucht, um bei ihr Hilfe zu finden. Heutzutage würde man zum Paartherapeuten oder zur evangelischen Beratungsstelle rennen, im Jahr 1959 ging man eben zur Tante Heete. Die zweite Geschichte spielt auf dem Mond, in der Tiefebene „Mare Crisium“, wohin sich die letzten Menschen nach der Zerstörung der Erde im Atomkrieg geflüchtet haben.

Jürgen: Ich sage doch, ein in doppelter Hinsicht toller Roman: Die Schreibweise und Wortspielereien, wie gesagt, dann die grotesken Erlebnisse der Helden in der Lüneburger Heide und deren Spiegelung auf dem Mond.

Arno: Sicher. Aber. Ich muss dir gestehen, ich kam einfach nicht rein in den Roman. Ehrlich gesagt, die phonetische Schreibweise ging mir so was auf den Zeiger.

Jürgen: Aber der Erzähler nimmt sich doch selbst auf die Schippe. Er will sich aus den Zwängen des Lebens befreien, aber letztlich befreit er sich nur aus den Zwängen des Herrn Duden.

Arno: Völlig dito.

Jürgen: Aber, bitte verrate mir, wie kannst du dem zustimmen, wenn du den Roman gar nicht gelesen hast?

Arno: Okay. Ich habe ihn gehört als Hörbuch beim Autofahren.

Jürgen: Nee, das ist ja geschummelt. Einen Roman zu lesen heißt, den Alltag auszusperren und sich im Sessel sitzend in eine fremde Welt hineinzuversetzen. Und nicht, sich mitten im Getümmel der Welt die Ohren vollquatschen zu lassen.

Arno: Was für eine elitäre Einstellung! Denk an die großen Epen von Homer oder den Minnesängern im Mittelalter: Große Literatur existiert eigentlich nur im mündlichen Vortrag. So auch der Kaff-Roman, der erst beim lauten Lesen zur Geltung kommt. Zum Beispiel, wenn die Personen im schlesischen und plattdeutschen Dialekt ihre mit Tiefsinn gepaarten Plattheiten von sich geben, überhaupt die ganzen pittoresken Einzelheiten des Fünfzigerjahre-Nachkriegsalltags: Das alles und noch viel mehr kommt erst im mündlichen Vortrag so richtig heraus. Mit einem Wort: Der Roman „Kaff auch Mare Crisium“ ist eine unglaublich schräge Mischung aus Ernst und Ulk, aus Nibelungenlied und Ohnsorg-Theater. Daher meine ganz klare Empfehlung für alle Vergnügungssüchtigen: Das Hörbuch.

Jürgen: Wie du meinst. Aber ich bevorzuge nach wie vor die bewährten Kulturtechniken und empfehle daher das Buch, das man ja auch selber seinem Schatz vorlesen kann: Das reale Buch in wohlfeiler Ausgabe.

Arno: Das muss ja mal gesagt sein: Du hast wirklich einen Sinn für Roh-Mann-Tick!

Ihr Jürgen Block

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