Jürgens herbstliche Reizwortgeschichte Nr. 2

Eduard Mörike: Septembermorgen

Im Nebel ruhet noch die Welt,

noch träumen Wald und Wiesen:

Bald siehst du, wenn der Schleier fällt,

den blauen Himmel unverstellt,

herbstkräftig die gedämpfte Welt

in warmem Golde fließen.

Fällt mir spontan dazu ein: Läuft da nicht was grundfalsch in unserer Welt, wenn man von der täglichen Arbeit dermaßen geschlaucht ist, dass man Ferien und eine Auszeit vom Leben braucht? Tschuldigung, Herbstgedanken am Septembermorgen.

Wir sind weiterhin in unserer Ostprignitz und darüber hinaus unterwegs, zur schönsten Jahreszeit, morgens Nebel, es träumen höchstens die Raps- und Maisfelder, spätestens ab Mittag kann man in diesem Land immer wieder seine blauen Wunder erleben.

Heute geht’s zur Wunderblutkirche St. Nikolai, natürlich Backsteingotik, in Bad Wilsnack, dem Thermalsole- und Moorheilbad in der Prignitz. Interessant: Dies war im späten Mittelalter eines der wichtigsten Wallfahrtsorte Europas, eben der Heiligen-Blut-Wallfahrt, übrigens damals beliebter und angesehener als Santiago de Compostela. Bis heute ist es zum Beispiel ein Rätsel, wieso sich damals gerade so viele Kinder und Jugendliche aus den ärmsten Schichten spontan auf den Weg zum Heiligen Blut gemacht haben, „ohne Nachdenken und ohne Geld“, „sind dadurch nicht besser, sondern schlechter geworden“, wie es in der Chronik heißt. Vielleicht wollten sie auch nur mal weg von Meister und Grundherrn und aus der Alltagshölle in den Himmel.

Martin Luther setzte dem ganzen Spuk bald ein Ende, er ließ die blutenden Hostien ins Feuer werfen, zog den Schleier fort und entzauberte den ganzen Heiligenschein. Die so gedämpfte Pilgerlust führte dazu, dass St. Nikolai nie fertig gebaut wurde, nun ruhet sie wie eine riesige Trumm neben geduckten Straßenhäusern.

Aber die Qualität des Moors soll sensationell sein: Über achtundzwanzig Prozent Eisenoxid und Huminsäuren. Damit verschafft es wissenschaftlich erwiesen Linderung bei rheumatischen Leiden und Unterleibserkrankungen, und noch bei chronischen Gallenblasen-, Blinddarm- und Venenentzündungen.

Vielleicht später einmal. Soraya: „Siehst du den Buchladen?“

Wir also rein in den Laden, in dem es aussieht wie bei mir unterm Sofa, nur der Trampelpfad zur Kasse ist unverstellt, sonst nur Wolle, Kalender, Teddys und Überraschungseier.

Danach waren wir in einer Stadt, ich will keinen Namen nennen, das einzige, was sich da auch nur ansatzweise herbstkräftig bewegte und einen Laut von sich gab, waren vier Fontänen, die aus dem brandenburgischen Marktplatzpflaster auf- und niedergingen. Selbst die Rathausuhr war bei zwölf Uhr stehen geblieben. Im ehemaligen Fernsehgeschäft war ein „prof. Nagelstudio“ und neben dem Kinoeingang die Praxis eines Heilers, der alle Krankheiten heilte, aber keinen Arztbesuch ersetzen wollte. Okay, das Parken war umsonst, aber es parkte außer uns sowieso keiner.

Wir brauchen Aufmunterung, daher ab zum Modemuseum in Meyenburg, Schlag auf Schlag, das liegt direkt an der mecklenburgischen Grenze. Faustformel: Mecklenburg hat Angerdörfer, Brandenburg Straßendörfer. Oder meine Lübzer-Probe: Der Mecklenburger sagt zum Lübzer Bier: „Lübzä“ und der Prignitzer drei Kilometer weiter: „Lübza“. (Und mein Kumpel aus Sankt-Pauli irgendwie dazwischen: „Lübzoa“.) Übrigens hört sich der brandenburgische Dialekt an, als wenn sie ständig Witze erzählen.

Zurück zur Damenmode. Eine Edle Sowieso hat keine Wald-und-Wiesen-Kleider, nei–hein, sondern festliche Ball- und Hochzeitskleider, seit der Gründerzeit zusammengetragen, echt wow, sage auch ich, der sich sonst um Mode nicht schert, wobei, so ein Paillettenkleid aus den Zwanzigern, das in warmem Golde den Body herabfließt – Mannomann! Ich versuche Soraya so zu dirigieren, dass ihr Spiegelbild auf das Kleid passt.

Seinerzeit konnten sich die Damen ihren Körper schon nicht mehr mit Korsetts zurechtschnüren lassen, ab da hieß es sich ins Kleid reinhungern oder -schwitzen. Folge: Verinnerlichung des äußeren Zwangs. Wir jedenfalls denken ganz zwanglos ans Mittagessen und fotografieren, was das Zeug hält („Fotoerlaubnis für zwei Euro, es ist verboten, ein Stativ zu benutzen“). Das Vitrinenglas spiegelt wie Teufel, dafür halten die Fensterpuppen still und laufen nicht weg.

Heimweg. Über uns in nicht ganz ordentlichem Formationsflug: Kraniche. Wir fahren auf autoleeren Bundesstraßen, nur hier und da Dörfer mit Renaissanceschloss. Halt, vorher noch beim Fischimbiss bei der Plettenburg, im Zuge der sowjetischen Bodenreform enteignet. Dort kaufen wir geräucherte Forellen, frisch gefangen aus den Gewässern, die hier irgendwo noch fließen müssen. Hmm, wie sie in der Sonne so golden glitzern (die Forellen)!

Trotzdem: Für mich ist die Farbe des Herbstes nicht Gold, sondern die höchste aller Farben: Purpur. Wie Goethe in seiner Farbenlehre sagt: Purpur „gibt einen Eindruck sowohl von Gunst und Würde als von Huld und Anmut.“ Nichts anderes ist der Herbst. Wie die Farbe beim Sonnenuntergangsspektakel und in den Blättern, die die Leute mit ihren Laubbläsern in die Ecke treiben.

Einwandfrei, morgen tauchen wir noch mal so richtig in deutsche Kultur und Geschichte ein, Gott, was sind wir nach den Monaten der Ausgangsbeschränkungen ausgehungert. Darauf eine Regenbogen- nein: Goethische Farbkreisforelle.

Das war unser zweiter Tag.

Ihr
Jürgen Block

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