Jürgens Lieblingshörspiel: Fred von Hoerschelmann – Das Schiff Esperanza

Wenn man sich ein Bild vom Deutschland der 50er-Jahre machen will, muss man sich die Hörspiele von Fred von Hoerschelmann anhören. In Aufgabe von Siena (1955), Die Saline (1958) oder Dichter Nebel (1962) werden die von Krieg und Faschismus gezeichneten Menschen ungeschminkt dargestellt. In Das Schiff Esperanza von 1953 tritt der Kapitän Grove auf, der immer noch vom Torpedieren feindlicher Schiffe schwärmt:

„Vielleicht ist es nur ein Punkt, eine dunkle Stelle, eine kleine Unruhe im Meer, aber das sind sie. Und du hast nicht eher Ruhe, bis der Punkt verschwunden ist, weggeputzt, und in Bruch und Trümmern hineingesenkt in die Tiefe. Das ist dann dein Triumph, ein herrliches Gefühl (…). Du bist satt bis zum Halse, voll von Leben (…). Prost!“

In diesem Monolog kommt ein faschistischer Geist zu Wort, für den der Krieg niemals zu Ende geht. Der Kapitän ist der Anführer einer Schlepperbande, die illegale Auswanderer abzockt und auf einer Sandbank mitten im Ozean aussetzt.

Kapitän Groves Sohn Axel ist eine ähnlich verwahrloste Person, die selbst acht Jahre nach Kriegsende im Leben noch nicht richtig Fuß gefasst hat. Er ist staatenlos und schlägt sich mit den miesesten Jobs durchs Leben.

Während Hoerschelmann den Kapitän durch einen besoffenen Monolog darstellt, charakterisiert er den 23-jährigen Axel in einem Dialog. Im Heuerbüro erfährt Axel, dass er als Aschenmann bei der Esperanza mitfahren kann:

Axel: Spanien?

Mann: Panama.

Axel: Oje. (…) Das ist mein Schiff. Panama? Egal.

Als der Heuermann ihn noch vor diesem Schiff zu warnen und abzuhalten versucht, unterbricht Axel ihn und unterschreibt. Das Schiff fährt unter der Flagge Panamas, das heißt, dort gelten nicht die deutschen Arbeits- und Sicherheitsbestimmungen. Statt sich also zum Beispiel im Hafen eine richtige Arbeit zu suchen, zieht Axel es vor, auf einem Seelenverkäufer anzuheuern und sein Leben aufs Spiel zu setzen. Panama? Egal. Das ist seine Lebenseinstellung, in der er sich bewusst für die schlechteste Alternative entscheidet.

Sich unter Alternativen entscheiden zu können, darin sehen Jean-Paul Sartre und vor ihm Immanuel Kant unsere Freiheit begründet. Wieso nutzt Axel seine Freiheit dazu, sich selbst zu schädigen? Das Hörspiel stellt dar, wie Axel sich immer wieder neu schädlich entscheidet, und lenkt die Aufmerksamkeit auf die geschichtlichen und psychologischen Bedingungen des Handelns. Erfahrungen und Traumatisierungen durch Krieg und Faschismus beeinflussen ganz ersichtlich Axels Handeln. Und als er am Schluss entscheidet, mit den Auswanderern von Bord zu gehen, lässt er sich durch keine Ratschläge oder Überlegungen davon abhalten, sich in Lebensgefahr zu bringen. So greifen Hoerschelmanns Hörspiele die Frage nach der Freiheit auf, aber sie stellen sie in einen konkreten historischen, man kann auch sagen: materialistischen Kontext der wirklichen Handlungsbedingungen.

Das Schiff Esperanza ist Fred von Hoerschelmanns bekanntestes Hörspiel, das viele Jahre auch Schullektüre und für viele Schüler der erste Kontakt zu einer literarischen Ganzschrift war. Gemessen an der Zahl der Übersetzungen und Aufführungen ist es auch das erfolgreichste deutsche Hörspiel. Fred von Hoerschelmann schreibt eine präzise dialogische Prosa, in der aus knappen Worten literarische Welten entstehen.

Aber Achtung: Das Schiff Esperanza ist keine literarische Schrift, sondern ein akustisches Kunstwerk, ein Hörspiel. Man muss sich die einzelnen Szenen als akustische Szenen vorstellen. Wenn zum Beispiel bei Axels Unterschrift die Schreibfeder übers Papier kratzt, dann kratzt da eben auch ein Wesen mit messerscharfen Krallen, das Besitz von ihm ergriffen hat. Die Hörszenen befinden sich abwechselnd im Freien und in Hotelzimmern und Schiffsladeräumen. Die Personen sind eingesperrt zwischen Mauern und Eisenwänden und Axels letztes Lebenszeichen ist das Rostklopfen im Kettenkasten. So sind die knappen Dialoge und die manchmal ausufernden Monologe eingebettet in ein beklemmendes tödliches Hörszenario. Die Personen sind nicht viel mehr als eine kleine Unruhe im Meer. Was von ihnen bleibt, ist eine verhallende Tonspur.

Über fünfzig Hörspiele (darunter auch Hörfunkbearbeitungen) hat Hoerschelmann zwischen 1949 und seinem Tod 1976 veröffentlicht. Zusammen bieten sie noch heute einen faszinierenden Blick in eine fremde Zeit, als das Radio noch ein Massenmedium war. Wir können davon ausgehen, dass Das Schiff Esperanza ein Millionenpublikum erreichte, darunter auch unsere Eltern und Großeltern. Sie haben alle am Schicksal von Axel, Kapitän Grove und den illegalen Auswanderern hörspielhörend teilgenommen. Von einem solchen Massenpublikum können wir Blogger und Autoren des einundzwanzigsten Jahrhunderts nur träumen. Denn trotz oder wegen aller neuen Medien ist die Welt nicht einfacher geworden und die Freiheit unserer Entscheidungen wohl stärker gefährdet als vor über sechzig Jahren, kurz nach dem Zweiten Weltkrieg. Und wer sich sofort ein Hörbild von ihm machen will, kann es hier tun: bei youtube, beim NDR zum Download oder bei Amazon.

Ihr Jürgen Block

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