Misstrauen Sie jedem Klappentext! Vermutlich tun Sie das sowieso. In diesem Fall – oder besser: für dieses Buch ist es aber ganz besonders angebracht.
»Hinreißend komisch und leichtfüßig philosophisch erzählt Jens Sparschuh von der Suche nach der eigenen Geschichte.«
Titus Brose, der Protagonist des Romans „Das Leben kostet viel Zeit“, verfasst Biografien und zwar bevorzugt von Bewohnern von Seniorenresidenzen. Er ist Angestellter einer kleinen Firma in Berlin. Außer seiner Chefin gibt es nur noch einen Kollegen: Schulze. Wenn etwas »hinreißend komisch« ist in diesem Buch, dann vielleicht dieser Kollege. Aber er bleibt eine Randerscheinung im Roman. Dass der Autor die Verhältnisse im Seniorenheim, oder besser gesagt den indirekten Blick des Protagonisten auf alles in der Geschichte – auch auf sich selbst – leicht ironisch angelegt hat, macht daraus längst noch keinen komischen Roman. Überhaupt geraten die Beschreibungen der Senioren keinesfalls lustig oder gar slapstickartig. In die Ironie mischen sich meistens andere Gefühle wie Mitleid, Sorge, Bedauern. Dies alles soll aber keine negative Kritik am Roman sein, sondern nur am Klappentext.
Titus Brose hat vor seiner Beschäftigung als Chef- und einziger Redakteur einer Provinzgazette gearbeitet. Deshalb versucht er, bei seinen Senioren-Biographien mit journalistischer Sorgfalt vorzugehen und kann sich mit der Versatzstück- und Klischee-Arbeit seines Kollegen nicht wirklich anfreunden. Schwer genug hat er es auch, die Distanz zu seinen »Auftraggebern« zu wahren. Immer wieder gleitet die Arbeit in persönliche Anteilnahme ab. Dabei verliert er oft genug den Blick für das »Wirtschaftliche« und beschäftigt sich mit Personen, die keinen Ertrag bringen können. Seine Chefin lässt ihn gewähren und greift nur sanft korrigierend ein. Seine Frau bietet ihm nur selten Gelegenheit, die offenen Fragen zu reflektieren, die sich aus der Arbeit ergeben. Dann gerät Brose an Dr. Einhorn und über ihn an Adelbert von Chamisso und seinen Verleger Hitzig. Obwohl Brose den Peter Schlemhil nie zu Ende gelesen hat, fasziniert ihn nun der Dichter und Naturforscher sowie dessen Werk. Chamisso nimmt keinen allzubreiten Raum ein in diesem Roman und doch erfährt der Leser auch über ihn so einiges.
Um auf den »Klappentextdichter« zurückzukommen: Ein klein wenig stimmt dessen Behauptung, dass es auch um die Suche nach der eigenen Geschichte geht. Zumindest auf Brose trifft dies zu, der zunächst unfreiwillig, später aber gewollt intensiver in seiner Erinnerung forscht, dann aber auch vor dem Rätsel des »Ausgangs«, des Lebensendes nicht halt macht. Immerhin hat er das in der Seniorenresidenz ständig vor Augen. Und auch auf das »hinreißend« komme ich noch einmal zurück. So empfinde ich nämlich den Titel des Romans: »Das Leben kostet viel Zeit«. Wenn etwas philosophisch an diesem Buch ist, dann ist es gerade dieser Titel. Und damit kann man diesen oberflächlichen Missgriff in der Klappentextbeschreibung doch wieder durchgehen lassen. Mit etwas gutem Willen.
Ihnen empfehle ich jedenfalls diesen Roman als Sommerlektüre. Die 380 Seiten kosten Sie nicht viel Zeit, denn ein schwergängiges Buch ist es nicht. Es könnte allerdings passieren, dass das Nachdenken über manches im Buch angesprochene dann doch einen erhöhten Zeitaufwand einfordert. Aber was soll’s? Geschenkt wird einem im Leben nichts – noch nicht einmal Zeit.
Ihr Horst-Dieter Radke