Schreiben im Senegal – Teil 2

Wer sich einbildet, in der Mitte von Nirgendwo am besten schreiben zu können, muss einiges auf sich nehmen, um dort hinzukommen. Ich muss zunächst nach Toubakouta, das ca. 250 Kilometer von Dakar entfernt liegt und als zumindest nicht ganz kleiner Ort auf der Karte zu finden ist. Auf dem Weg zum Gare Routiere in Dakar ist natürlich Stau, dort angekommen heißt es warten, bis sich genügend Mitfahrer finden. Bei einem Bus mit Plätzen für dreizehn Mitfahrer dauert das halt eine Weile. Knapp eineinhalb Stunden in meinem Fall. Schon ist Mittag. Immerhin habe ich mir durch frühzeitiges Erscheinen und einen kleinen Extrabetrag den Platz auf dem Beifahrersitz gesichert. Als wir vollzählig sind, bezahlen wir alle noch eine Kleinigkeit von umgerechnet 50 Cent, damit der Fahrer die mautpflichtige Straße mit weniger Stau nimmt. Trotzdem dauert die Fahrt bis Toubakouta etwa fünf Stunden, und ich werde leicht nervös. Denn ich muss von dort aus noch weiter nach Misirah, weil dort die Piroge abfährt und ich gelesen habe, dass das Einchecken im Camp bis 19 Uhr erledigt sein soll. Das könnte allmählich knapp werden. Endlich entlässt der Fahrer mich und meinen Rucksack mit einem Blick, der sagt: Du hast es so gewollt.

Toubakouta. Ein paar Hütten am staubigen Straßenrand, ein paar Händlerinnen, die Erdnüsse und Mandarinen verkaufen, während Kinder zu ihren Füßen spielen. Und ein paar Jugendliche mit Motorrollern, die ein Geschäft wittern. Ich hätte lieber ein Taxi, aber es sieht nicht so aus, als gäbe es hier eines. Mit dem Roller sei das kein Problem, versichert mir der Junge, der höchstens fünfzehn sein kann und dessen Nicken auf meine Frage nach Misirah mich nicht ganz überzeugt. Aber ich habe keine Wahl, inzwischen ist es 17:30 Uhr, und ich habe keine Ahnung, wo dieses Misirah liegt. Auch keine Ahnung, wie lange es von hier aus noch dauert, dorthin zu kommen. Eine Stunde und ein bisschen, sagt der Junge. Jetzt werde ich leicht panisch, schließlich kenne ich das notorisch ungenaue Zeitgefühl der Afrikaner. Ich sehe meine Piroge abfahren und mich in den Mangroven nächtigen, mit meinem Rucksack als Kopfkissen. Zum Glück gibt es hier keine Löwen oder Hippos mehr, die haben nämlich die Franzosen abgeschlachtet, als sie es noch konnten. (Übrigens lassen sich die Franzosen bis heute Reparationen von den Senegalesen zahlen für die Wohltaten, die sie in das Land gebracht haben, habe ich gelesen. Ich kann das nicht verifizieren, aber sagen wir mal so: Überraschen würde es mich nicht.) „Und was ist mit meinem Rucksack?“, frage ich den Jungen, der sich den kurzerhand auf den Tank stellt und gerade noch darüber schauen kann. Also nehme ich hinter ihm Platz, und los geht es auf dem nächsten Sandweg, der uns noch ein Stück durch Häuser und Höfe führt, wo die Kinder mir „Toubab, Toubab!“ („Weiße, Weiße!“) hinterher rufen und winken. Doch bald sind da nur noch Felder, eine sich abschwächende Sonne, der Motorroller und wir. Schon mitten im Nirgendwo, ohne Autos und Lärm, umgeben von Wasser und Natur. Und ich weiß, warum ich diesen verdammt langen Weg auf mich genommen habe. Glücklicherweise ist das Zeitgefühl der Afrikaner manchmal in die andere Richtung ungenau, und wir kommen gegen 18 Uhr am Pont in Misirah an.

Misirah. Ein Fischerdorf mit etwa fünftausend Einwohnern, von denen sich ungefähr fünfzig jetzt, kurz vor Einbruch der Dämmerung, auf dem Platz am Pont versammelt haben. Die geschäftigen und geschwätzigen Frauen mit Kindern und ihrem Angebot an Nüssen, Bananen und Getränken im Schatten unter dem Baum in der Mitte Platzes. Die Männer hingegen sitzen schweigend am Rand des Platzes, beobachten mich mäßig neugierig, während ich versuche, Christines Telefonnummer zu finden. Ich soll sie anrufen, damit sie mir die Piroge schickt. Einer der Männer öffnet dann doch den Mund, um mir Mbaye zu zeigen, der offenbar den Auftrag hat, Christines Kunden einzusammeln, die als Weiße  hier schnell zu identifizieren sind. Mbaye, ein Mittfünfziger mit einer Sonnenbrille auf der Nase, winkt mir auch sofort zu. Meine Piroge sei schon da, aber wir müssten noch auf zwei weitere Gäste warten. Wir nehmen auf einer Bank im Schatten Platz, ich laufe noch schnell in eines der Geschäfte, in dem der Verkäufer sich mit seinen Waren hinter einem Gitter eingesperrt hat. Ich brauche eine Flasche Wasser, meine aus Dakar mitgebrachte habe ich in großen Schlucken geleert. Tagsüber hatte ich mir nur kleine Schlucke genehmigt – die Busreisen sehen nämlich keine Toilettenpause vor. Jetzt, da das Camp nur noch eine Pirogenfahrt entfernt liegt, kann ich trinken. Mbaye verwickelt mich in ein Gespräch. Und was ist seine erste Frage? Richtig, die nach meinem Ehemann. Der sei zu Hause, schwindle ich ungerührt, denn ich sei Schriftstellerin und müsse in Ruhe schreiben. Deshalb weiß ich auch noch nicht, ob ich Mbayes Angebot eingehe, mit mir auf einen Markt in der Nähe zu fahren. Wir tauschen Telefonnummern, damit ich ihm Bescheid geben kann, wenn ich mich entschieden habe. Inzwischen gesellt sich ein weiterer, jüngerer Mann zu uns, und als er hört, dass ich Schriftstellerin bin, erzählt er mir von Fatou Diome, die in der Nähe geboren ist und die er einmal für einen Vortrag hierher einladen will. Ich habe auch etwas von ihr gelesen, und er errät sofort, welches Buch das war: „Der Bauch des Ozeans“. Er schwärmt von ihr, weil sie sich – jetzt von Frankreich aus – dafür einsetzt, dass die Afrikaner so reisen dürfen, wie wir Europäer es tun. „Wie es jetzt ist, ist es doch nicht gerecht“, sagt er. Ich stimme ihm mit Unbehagen zu, weil ich so eindeutig und ohne eigenes Verdienst privilegiert bin. Weil die anderen Kunden noch auf sich warten lassen, führt Mbaye mich zu dem heiligen Baum des Ortes, einem tausendjährigen Baobab. Ich will meine Tasche mitnehmen, in der sich Kamera und Pass befinden, aber das wird beinahe als Beleidigung empfunden – schließlich würde der junge Mann auf meine Sachen aufpassen. So kommt es, dass ich von dem wirklich beeindruckenden Baum leider kein Foto habe. Ich habe zwar viele Fotos von Baobabs, aber keines von jenem in Misirah.

Endlich startet meine Piroge, ohne die beiden Kunden, die erst drei Stunden später auf der Insel eintreffen werden. Ich lerne, dass das Gewässer, über das wir fahren, kein Fluss ist, sondern das Saloum-Delta des Atlantischen Ozeans. Weil gerade Ebbe ist, müssen wir einen Umweg fahren, was mir recht ist, denn so sehe ich mehr Landschaft. Und Spuren von Fischen, die in kleinen Bögen aus dem Wasser hüpfen, aber so klein und schnell sind, dass ich  nur die Kreise sehe, die sie beim Aus- und Eintritt auf dem Wasser hinterlassen. Der Sonnenuntergang ist eher unspektakulär, denn der Himmel ist etwas vernebelt vom Saharasand, der in diesen Monaten oft hierhergetragen wird. So verschwindet die Sonne irgendwann blass im Sandstaub. Und für einen Moment fällt der Motor der Piroge aus und die Stille gibt mir einen Vorgeschmack auf die nächsten Tage.

Ihre

Dorrit Bartel

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